Rechtsdruck
strukturiert, aber clever.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er hat ein paar Flausen im Kopf, die besser zu einem 20-Jährigen passen
würden. Eigenes Geschäft, Designerklamotten anfertigen, und solche Sachen. Aber
er hat bei mir einen sympathischen Eindruck hinterlassen.«
»Könnten Sie sich vorstellen, dass er seine Eltern und seinen Bruder
umgebracht hat?«
Stemmler lachte unter großen Schmerzen auf. »Nein, nie im Leben. So
was traue ich ihm auf gar keinen Fall zu.«
Nun erzählte Lenz dem Mann im Krankenbett von den Ereignissen des Morgens
und den schwerwiegenden Verdachtsmomenten gegen Kemal Bilgin. Die Einflussnahme
seines Vorgesetzten sowie den Druck der Staatsanwaltschaft ließ er unerwähnt.
Der Journalist winkte ab. »Das können Sie sich aus dem Kopf schlagen.
Der Junge hat nicht das Format, mit einer Knarre in die Wohnung seiner Familie zu
marschieren und dort ein Massaker zu veranstalten.«
»Sicher?«
»Hundertprozentig. Aber wenn ich Sie eben richtig verstanden habe,
liegt er im Sterben und hat keine Chance mehr, sich zu dem Sachverhalt zu äußern.«
Nun nickte Lenz. »Das haben Sie, ja. Gibt es jemanden, dem Sie die
Morde eher zutrauen würden? Oder haben Sie vielleicht einen konkreten Verdacht,
wer es gewesen sein könnte?«
»Das war eine Sache im Umfeld von Milli Görü ş , wenn Sie mich schon danach fragen. Wer genau
so was macht, kann ich Ihnen natürlich nicht sagen, aber wenn einer umgebracht wird,
der für die Organisation Geld gewaschen und verteilt hat, dann sollten Sie auch
bei denen anfangen zu suchen.«
»Haben Sie einen Namen?«
Nun überlegte Stemmler sehr, sehr lange, bevor er antwortete.
Dann nannte er den Beamten den Namen und die Adresse eines türkischen
Restaurantbesitzers in der Innenstadt. »Dieser Mann ist nach dem, was ich herausgefunden
habe, die Nummer eins von Milli Görü ş hier in Kassel. Ich glaube zwar nicht, dass er mit Ihnen reden wird,
aber Sie können Ihr Glück gerne bei ihm versuchen. Ich gebe Ihnen allerdings den
guten Rat, ihn nicht zu verärgern, denn er hat einen äußerst klagefreudigen Rechtsbeistand.«
»Danke für den Tipp«, gab Lenz zurück. »Meinen Sie, dass die Morde
an den Bilgins und die Sache mit Ihnen in einem Zusammenhang stehen?«
»Wenn die Familie Bilgin von einem Killer umgebracht wurde, den Milli
Görü ş geschickt hat, dann ja.
Ansonsten nicht. Aber die Chance dafür ist ziemlich gering.«
»Dann meinen Sie«, wollte Hain eine weitere Frage stellen, wurde jedoch
von einem kurzen Klopfen und dem sofort folgenden Öffnen der Zimmertür unterbrochen.
»Tag, die Herren«, wurden alle im Raum von einer resolut auftretenden
Krankenschwester begrüßt.
»Und für Sie beide«, deutete sie auf Lenz und Hain, die am Fuß des
Krankenbettes standen, »heißt das leider gleichzeitig auf Wiedersehen. Unser Patient
hier hat nämlich in einer knappen Stunde ein Rendezvous im OP mit unserem Chefarzt.«
»Wie«, fragte Stemmler unsicher zurück, »klappt das doch heute noch?«
»Ganz genau. Eine OP, die für heute Nachmittag angesetzt war, musste
ausfallen, und deshalb operiert Professor Hartenstein zu diesem Termin statt einer
Oberschenkelfraktur Ihr verschobenes Schlüsselbein.«
»Mit dem möchte ich jetzt auch nicht tauschen«, bemerkte Hain, nachdem
die beiden sich von Stemmler verabschiedet hatten und die Tür hinter ihnen zugefallen
war. »So verbeult aussehen und dann gleich noch eine Operation.«
»Da ist was dran, Thilo. Meinst du, wir sollten eine Schutzwache für
ihn organisieren?«
»Auf jeden Fall, daran führt kein Weg vorbei. Nicht auszudenken, wenn
ihm hier drin was passieren würde. Ich kümmere mich darum, sobald mein Telefon wieder
Empfang hat.«
Sie stiegen in einen Fahrstuhl, und Hain schob den Arm nach vorne,
um den Knopf für das Stockwerk zu wählen, erstarrte jedoch in der Vorwärtsbewegung
und drehte sich zu Lenz um. »Rauf oder runter, Herr Kommissar?«, fragte er grinsend.
»Runter. Die Mutproben für diese Woche habe ich bestanden, und ich
will auf dem schnellsten Weg hier raus. Irgendwie kriege ich immer Kopfschmerzen
von dieser Krankenhausluft.«
»Wenn das mal keine Ausrede ist«, frotzelte Hain und legte den Zeigefinger
auf den rot umrandeten Edelstahlknopf mit dem großen E in der Mitte. In der Halle
angekommen nahmen die beiden Kurs auf den Ausgang, kamen jedoch nicht weit.
»Hallo, Jungs«, rief eine ebenso vertraute wie erstaunt klingende Stimme
aus dem Hintergrund. Die beiden
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