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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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für menschliche Kontakte dar. Dostojewski will, dass wir die fesselnde Sprache, mit der der Kellerlochmensch seine philosophische Freiheit präsentiert, anhand der Einzelheiten seiner Biografie überprüfen.
    Das erste dieser Ereignisse beginnt damit, dass der junge Beamte zusieht, wie jemand von einem Offizier aus einem schäbigen Restaurant hinausgeworfen wird. Da er nach seinen Worten »diesen hinausgeworfenen Herrn einfach beneidete«, möchte er natürlichdenjenigen treffen, der den Hinauswurf besorgt hat. Als er das Restaurant betritt, bringt er dieselbe Mischung aus Faszination und Furcht zum Ausdruck, die er oft gegenüber seinen Kollegen empfunden hat. [18] Außerdem hofft er, sich in eine »literarische« Situation zu begeben, doch die Niederlage in einer Prügelei, die er romantisch ersehnt, findet nicht statt. Stattdessen hebt ihn der vorübergehende Offizier an den Schultern an, stellt ihn an einen anderen Platz und »ging weiter, als hätte er überhaupt nichts bemerkt«. Diese schmähliche Konfrontation ohne die erhofften Schnörkel beleidigt das Zartgefühl des Kellerlochmenschen zutiefst. Aber obwohl er fühlt, dass er protestieren sollte, »überlegte [er] und zog vor, [sich] ergrimmt [ ozloblenno ] zu verziehen«. [19]
    Angesichts einer direkten Kränkung kann der junge Mann nicht zurückschlagen, ja nicht einmal seine Empörung zum Ausdruck bringen. Stattdessen übernimmt er Hamlets Philosophie des »Wartens bis zum nächsten Mal«, [20] dieses fatale Zögern, das sich aus dem legalistischen Ansatz des Verbalisierers gegenüber Konfrontationen ergibt. So wie Hamlet sein Schwert während Claudius’ Gebet in die Scheide steckt, so unterdrückt der Kellerlochmensch jede äußerliche Reaktion auf die empfundene Kränkung. Und wie der Prinz tröstet er sich mit dem Versprechen, dass die Rache im Kontext einer vollkommeneren »Gerechtigkeit« eintreten wird. Am nächsten Abend kehrt er in das Restaurant zurück, aber das Wissen um seine ursprüngliche Schwäche hat sich verschärft, und im gleichen Maß hat sich sein daraus folgendes Ressentiment verallgemeinert; damitwird die ganze im Restaurant versammelte Gruppe, »von dem unverschämten Marqueur bis zu dem letzten ranzigen, finnigen kleinen Beamten […] mit speckigem Kragen«, nun zum Gegenstand seiner Rachsucht.
    Die Wirkungen seiner wuchernden negativen Einstellung bleiben bestehen und werden noch größer, als der Kellerlochmensch sein Problem in das mondäne Milieu des Newski-Prospekts einführt. Doch selbst dort kann er seinen Hass auf den Offizier nicht in eine sinnvolle physische oder verbale Form umsetzen. Stattdessen übernimmt er die visuelle Haltung von Plutarchs neidischem Menschen: »Ich aber, ich starrte ihn mit Zorn und Haß an und das dauerte … mehrere Jahre, jawohl! Mit der Zeit wurde mein Zorn [ sloba ] sogar tiefer und nahm immer mehr zu. […] Zuweilen würgte die Wut mich geradezu« (S. 56 f.).
    In Kapitel 3 wird Swerkow eingeführt, die Figur, die beim Kellerlochmenschen Existentialneid * auslöst, die vorletzte Phase im Entstehen der Negativität. Der Protagonist merkt an, dass sein früherer Schulfreund »ein hübscher, lustiger Knabe gewesen [war], den alle liebten. […] Er war ausgesprochen gewöhnlich, doch ein guter Junge, selbst dann, wenn er prahlte« (S. 68). Außerdem wurde Swerkow von vielen verehrt, »einfach so, weil er ein vom Schicksal favorisierter Mensch war« (S. 68). Wie gut lässt sich nun in diesem persönlichen Kontext die Polemik gegen die »Naturgesetze« verstehen, und mit welcher Brillanz demoliert Dostojewski komplexe Aussagen der Sozialkritik!
    [Ich haßte] ihn […] eben gerade deshalb, weil er hübsch und lustig war. […] [Ich] haßte sein schönes, aber einfältiges Gesicht (gegen das ich übrigens mit Vergnügen mein kluges eingetauscht hätte […]). Ich haßte es, wie er von seinen zukünftigen Erfolgen bei Frauen erzählte […]. (S. 68 f.)
    Unser Verständnis dieses Protagonisten definiert in weitem Umfang unsere Empfänglichkeit für moderne Fiktion, und er verdient unser Mitleid, nicht unsere Bewunderung. Der Kellerlochmensch ist der Repräsentant einer Kultur, deren Mangel an konsistenten Werten es notwendig macht, uns mit anderen zu vergleichen, ein persönliches Weltbild eher zu übernehmen als selbst zu schaffen. Mit anderen Worten: Die imitatio Christi [21] ist zum relativistischenMuster einer imitatio alterorum degeneriert. Schon Swerkow kann in all seiner Belanglosigkeit

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