RECKLESS HEARTS
ein Jahr nach der Geburt ihres Kindes ihre alte Arbeitsstelle im Café wieder aufnehmen. Manni, ihr Chef, für den sie nun schon einige Jahre gearbeitet hatte, schätzte sie als die zuverlässigste, pünktlichste, ordentlichste - ihm würden noch so viele gute Eigenschaften mehr einfallen - Arbeitskraft, die er je gehabt hatte. Nie hatte sie sich über den Job oder sonst etwas beschwert oder sich etwas zu Schulden kommen lassen. Zugegeben, sie war eher der reservierte, zurückhaltende Typ, sprach nicht viel, erzählte keine Anekdoten aus ihrem Leben, machte keine Bemerkungen über ihr Befinden, hielt sich mit Kommentaren jeglicher Art zurück, blieb sachlich und auf die Arbeit bezogen, die sie mit großer Sorgfalt und Disziplin erledigte, war überaus höflich und freundlich zu den Gästen und ebenso zu ihren Kollegen und nicht zuletzt respektvoll und aufmerksam gegenüber ihrem Chef. Falls Sylvie persönliche Probleme hatte, ließ sie jedenfalls nichts nach außen dringen. Davon konnten sich die anderen Kellnerinnen ruhig einige Scheiben abschneiden.
Agnes sah Sylvie eindringlich in die Augen. »Zieh mit dem Kleinen zu mir«, sagte sie. »Ich könnte ihn morgens versorgen und in den Kindergarten bringen und nachmittags abholen. Du könntest deinen Arbeitstag weniger hektisch beginnen, und nach Schichtende könntest du direkt nach Hause kommen, wir könnten dann gemeinsam essen und den Kleinen ins Bett bringen. Was … was sagst du dazu, hm? Du musst nicht gleich eine Entscheidung fällen, Sylvie. Denk einfach mal darüber nach. Weißt du, Kind, ich … ich frage mich natürlich, was ich in dieser Vier-Zimmer-Wohnung noch soll, sie ist zu groß für eine einzelne Person, eine alleinstehende Frau wie mich. Außerdem, allein meine Hinterbliebenenrente wird nicht ausreichen, Miete und Lebenshaltungskosten auf Dauer zu zahlen. Zusammen könnten wir uns in vieler Hinsicht gegenseitig unterstützen.« Sie senkte den Blick, umfasste mit beiden Händen ihre Tasse und nahm einen Schluck heißen Pfefferminztee.
Sylvie spürte genau, wie ihre Mutter ängstlich und voller Hoffnung auf eine Antwort wartete, und dass sie offensichtlich wirklich keine Ahnung hatte, wie Sylvie auf diesen Vorschlag reagieren würde. Sie wusste aber auch, dass Agnes zwar mehr an sich selbst dachte, als an sonst jemanden, es aber mit ihrem Angebot, zusammenzuziehen und sich gegenseitig unter die Arme zu greifen, ernst und aufrichtig meinte.
Im Grunde genommen hatte Agnes wahrscheinlich recht. Es könnte allen Dreien das Leben - zumindest den praktischen Teil davon - deutlich vereinfachen, aber es würde auch bedeuten, von Agnes bevormundet zu werden, ihre neurotischen Ängste zu ertragen und in ihre dunklen seelischen Täler hinabgerissen zu werden. Sylvie wusste nicht, wie sich ein erneutes Zusammenleben - jetzt da sie reifer geworden war und ein Kind hatte - langfristig auf sie auswirken würde. Aber sie konnte ihre trauernde Mutter ja auch nicht allein lassen. Ihr Gewissen wäre auf ewig verdammt ...
Wenigstens gab es Theodor nicht mehr ...
Dezember 2005 Berlin
Sie hielten vor einem vierstöckigen Haus in einer ruhigen Seitenstraße. Nach dem ersten Eindruck zu urteilen, war dies eine weitaus aufgeräumtere Gegend als der Soldiner Kiez. Selin stieg vom Motorrad ab, die Augen weit aufgerissen und rührte sich nicht vom Fleck, während sie abwartend Alex fixierte. Er befreite seinen Kopf aus dem Helm, fuhr sich mit den Fingern durch die zerzauste Frisur und streckte Selin die Hand entgegen. Zuerst verstand sie nicht, dann aber fiel der Groschen, und sie nahm etwas ungeschickt den Helm von ihrem Kopf.
Er lächelte verhalten, sie lächelte nicht minder verhalten zurück und spürte ein Prickeln, das ihr über die Haut fuhr. Die Kälte , wollte sie sich weismachen. Die Ursache lag jedoch vielmehr bei dem jungen Mann, an dessen Rücken sie eine halbe Stunde geklebt hatte und es nicht unangenehm fand. Mit der geübten, flachen Hand bändigte sie die langen Haare und wischte einzelne abtrünnige Strähnen aus dem Gesicht.
Alex zog einen Schlüsselbund aus der Jackentasche und brachte mit einer Fernbedienung eine Art Garagentor dazu, sich quietschend zu öffnen. Selin sah, dass es sich um eine Durchfahrt auf den Hinterhof handelte.
»Komm«, forderte er sie auf und schob dabei das Motorrad neben sich her. Sie folgte ihm stumm, diesem Fremden, weil sie es so wollte, und fühlte sich von Sabri unendlich weit entfernt, als läge jenes Leben
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