RECKLESS HEARTS
mit ihm eine Ewigkeit zurück. Die Erinnerung an ihren dramatischen Abgang jedoch spielte sich vor ihrem geistigen Auge wie eine Slapstick-Filmszene in der Endlosschleife ab, ob sie wollte oder nicht. Immer deutlicher wurde ihr bewusst, dass sie den Armen furchtbar hinterhältig und brutal attackiert hatte. Es war gemein, dass er ihren angestauten Groll auf diese Weise abbekommen hatte, dass sie ihren jahrelang angesammelten Deprimüll auf ihm abgeladen und ihn verschüttet hatte ohne Rücksicht auf Verluste. Aber sein Anblick hatte in jenem Moment etwas in ihr ausgelöst, war der letzte Tropfen, der das Fass ... sein Hinterkopf, diese Fistelstimme, diese Handbewegung ... sie waren die Trigger ...
Selin wollte ihn nie mehr wiedersehen, daran zweifelte sie nicht eine Sekunde. Er war keine Bezugsperson für sie und würde nie eine sein. Ganz ohne Frage hatte sie ein radikales Ende markiert ... großer Gott, etwas weniger radikal hätte auch gereicht ... Dummerweise ließ sich die Sorge, ihn ernsthaft verletzt zu haben, partout nicht abschütteln - genauso wenig wie die Sorge, eventuell strafrechtlich verfolgt zu werden. Schon bald würde sie in Erfahrung bringen müssen, wie es dem armen Hund ging.
Alex parkte und sicherte das Motorrad an seinem Stammplatz und drehte sich zu Selin, die schweigend hinter ihm wartete. Er wusste, er musste behutsam sein, durfte sie nicht erschrecken, musste wiedergutmachen, dass er sie beinah ins Jenseits befördert hatte ... Außerdem musste er ... nein, musste er gar nicht, aber wollte er herauskriegen, wonach sie eigentlich suchte, denn er fühlte sich auf seltsame Art mit ihr verbunden, ein irrationales Gefühlserlebnis, das er so noch mit niemandem zuvor geteilt hatte.
»Okay, dann können wir jetzt hoch. Wie ich schon sagte, du kannst bei uns bleiben und dich in aller Ruhe ... also, du kannst ... dich sortieren und so, und fühl dich einfach willkommen. Meine Mutter ist im Grunde genommen ganz nett, wirst du gleich sehen. Sie ist nur gerade ein wenig erkältet und jammert herum.«
»Danke«, antwortete sie lächelnd. Ein ganz und gar bezauberndes Lächeln, wie er feststellen musste. Er konnte nicht umhin, für einen Moment in ihre Augen einzutauchen. Ein Mysterium, dieses blinde Vertrauen, das in ihnen lag. Ihre Blicke waren anders, als er es bisher bei Frauen erlebt hatte. Nicht fordernd, sondern abwartend ... und dann voller Sehnsucht nach etwas. Diese Sehnsucht berührte sein Innerstes, ohne dass er wusste, warum.
Sie liefen die Treppen hoch. Er schritt voraus, ein Arm durch die Motorradhelme gesteckt, mit quietschender Lederjacke und Stiefeln. Selin spürte mit jeder Treppenstufe ein leichtes Ziehen in der linken Hüfte. Restschmerzen. Nichts im Vergleich zur gestrigen Nacht, zum Glück.
Nervosität kroch in ihre Glieder, als Alex die Wohnungstür aufschloss. Ihr Blick fiel auf das Klingelschild, »Böller« stand da schnörkelig in Messing eingraviert. Selin wurde bewusst, dass er ihr seinen Nachnamen nicht genannt hatte, genauso wenig wie sie ihm den ihren. Er bemerkte ihren Blick und nickte. »Tja, so heißen wir, nach meinem Stiefopa ...«, seufzte er, als wäre es ihm ein Dorn im Auge.
»ALEXANDER?«, rief eine kratzig klingende Frauenstimme aus einem der hinteren Zimmer. Dann ein Naseschnäuzen und ein lauter Seufzer.
»Ja-aa«, rief er zurück, hielt Selin die Tür auf, damit sie eintreten konnte.
Schon der Flur wirkte irgendwie nicht zeitgemäß, mit dem abgewetzten, viel zu bunten Läufer, der klobigen Wandgarderobe und dem schummrigen Licht, das von einer ufoförmigen Deckenlampe kam. An den Wänden hingen unterschiedlich große, eingerahmte Bilder von verträumten Häusern inmitten einsamer Landschaften
Nachdem Alex die Wohnungstür zugezogen und die Helme in einer Ecke verstaut hatte, nahm er ihr wortlos die Jacke ab und hing sie ordentlich in den Schrank.
»Soll ich meine Schuhe ausziehen?«, fragte sie unsicher, beugte sich aber schon herunter, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Wenn du möchtest«, meinte er verhalten, während er aus seinen Motorradboots stieg.
Selin streifte die Stiefelletten von ihren kalten Füßen und spürte sofort die wohlige Wärme der Wohnung an ihren Zehen.
Alex wartete geduldig, bis sie bereit war ...
Viel zu dicht standen sie sich im engen Flur gegenüber, und er musste sich augenblicklich räuspern. »Dann mal los«, flüsterte er, ohne sie direkt anzusehen. Sie nickte mit gesenktem Blick.
Alex lief voraus, Selin
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