RECKLESS HEARTS
würde, sich über Wasser zu halten. Zudem hatte sie auf ihr Drängen hin den Schwur geleistet, ganz sicher und ohne zu zögern, um Hilfe zu bitten, wenn sie diese brauchen sollte. Agnes gab sich resigniert und hoffte, dass Sylvie irgendwann zurückkommen würde, zurück nach Hause.
Sie hatte sich immer wieder gefragt, warum Sylvie mit Theodor nie warm geworden war, warum sie ihm keine Chance geben wollte, ihr ein Vater zu sein … oder wenigstens etwas Vergleichbares wie ein guter Onkel, warum sie ihn so offensichtlich ablehnte und nie ein nettes Wörtchen für ihn übrig hatte. So gesehen war es mehr als verständlich, dass Theodor distanziert und desinteressiert gegenüber Sylvie geblieben war. Sie hatte es irgendwann schweren Herzens akzeptiert. Dennoch, Agnes‘ Enttäuschung und Trauer über die kühle Beziehung der beiden Menschen, die ihr viel bedeuteten, verhärteten im Laufe der Jahre ihre einst so feinen Gesichtszüge und trübten ihre Grundstimmung, die von Haus aus schon anfällig für Störungen war.
An manchen Tagen gelang ihr eine Annäherung an die Wahrheit, wenn sie dachte, Sylvies Abneigung gegenüber Theodor könnte damit zu tun haben, dass sie den unerwarteten Tod ihres geliebten Vaters nie wirklich verkraftet hatte, obwohl sie doch erst sechs Jahre alt gewesen war. Doch statt mit Sylvie über diese Dinge zu sprechen, sie in ihrer seelischen Not aufzufangen, oder für ihre Tochter und auch für sich professionelle Hilfe zu suchen, hatte sie in den Momenten tiefster Traurigkeit und völliger Verzweiflung zur Mutter Gottes gesprochen und manisch das ‚Vater Unser‘ rauf und runter gebetet.
Jetzt war Theodor tot.
Wie sollte es für Agnes weitergehen?
Sie klammerte sich an eine Idee, die ihr sehr schnell nach der Beerdigung gekommen war. Sie hoffte inständig, Sylvie würde auf ihren Wunsch eingehen. Es würde für ihre Tochter, den Kleinen und natürlich für sie selber das Beste sein! Alle drei könnten davon profitieren.
Agnes und Sylvie saßen am Küchentisch in Sylvies kleiner Wohnung. Der kleine Alexander schlief bereits. Er war mal wieder ganz schnell eingeschlafen, nachdem Sylvie ihm erlaubt hatte, einige Minuten auf seinem Bett herumzuhopsen und ihm anschließend »Guten Abend, gute Nacht« vorgesungen hatte. Was das Schlafen anging, hatte Sylvie richtig Glück mit ihrem Kind: Es schlummerte direkt nach seinem geliebten Gutenacht-Lied ein und schlief durch, bis sie ihn früh morgens mit zärtlichen Küsschen auf die festen, rosigen Wangen aufweckte, um ihn für den Kindergarten bereit zu machen. Dafür waren seine Wachzeiten, auch wenn er das meiste davon im Kindergarten verbrachte, voller unbändiger Aktivität und Energie und konnten Sylvie ganz schön aus der Puste bringen.
Agnes rührte mit einem kleinen Löffel nachdenklich in ihrem Pfefferminztee, obwohl sie noch keinen Zucker genommen hatte, und machte ein angespanntes Gesicht. Sie hatte sich wie immer sehr hochgeschlossen, aber elegant, gekleidet. Die leicht ergrauten Haare hatte sie zu einem strengen Dutt zusammengesteckt, silberne Haarklammern steckten an den Seiten und am Hinterkopf.
Sylvie betrachtete ihre Mutter zum ersten Mal nach langer Zeit wieder eingehender. Sie erschrak, als sie feststellen musste, dass Agnes, obwohl sie noch keine fünfzig war, alt und müde aussah. Wann und wie war das passiert? Sie hatte es nicht mitbekommen. Seit sie Alexander hatte, bekam sie so vieles in ihrem Umfeld kaum richtig mit. Ihr Fokus hatte sich völlig geändert.
Agnes, die für Sylvie immer der wichtigste Mensch überhaupt gewesen war, war durch Alex` Geburt aus dem Mittelpunkt von Sylvies Leben gedrängt worden. Daran konnte auch ihr nunmehr wohlwollendes Engagement für ihre Tochter und ihren einzigen Enkel nichts ändern. Sie hatte ihre besondere Stellung verloren und musste einen Weg finden, damit fertig zu werden. Für Alexander hegte sie, entgegen anfänglichen Befürchtungen, das Gegenteil könnte eintreten, vom ersten Moment an tiefgehende, zärtliche Gefühle.
Als Sylvie ihr den Kleinen das erste Mal in den Arm gelegt und er sie mit verschlafenen Äuglein angeblinzelt hatte, waren alle Bedenken und jeglicher Ärger über Sylvies große Schande von ihr abgebröckelt wie nutzlose alte Kruste, und sie hatte sich seit Langem wieder leicht und optimistisch gefühlt. Sie war unendlich gerührt und fühlte sich auf eine ganz wunderbare Weise voller reiner Liebe, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte.
Sylvie konnte
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