RECKLESS HEARTS
einen weiteren vollen Löffel in den Mund.
Alex nahm wieder eine entspannte Sitzhaltung an. Im selben Augenblick ertönte der Klingelton seines Handys. Er griff in die Seitentasche seiner Hose. Ohne das Handy für alle sichtbar hervorzuholen, checkte er mit gesenktem Blick, wer da etwas von ihm wollte.
Seine Miene wurde schlagartig ernst.
»Ich muss leider rangehen, entschuldigt bitte«, sagte er und hastete im nächsten Moment aus der Küche.
Sylvie sah ihm mit nachdenklichem Blick hinterher. »Ich hoffe, er muss nicht wieder für mehrere Tage verschwinden«, ließ sie mit banger Stimme verlauten. Doch diese Bemerkung vor Selin so freimütig geäußert zu haben, war ihr unverzüglich so unangenehm, dass sie sofort verstummte.
Ein leichtes Unbehagen erfasste Selin.
Der Moment des Schweigens fühlte sich an, als würde Zeit auf einmal um das Zehnfache gedehnt werden. Eine gepflegte Tischkonversation wäre jetzt sicher das Richtige, aber Selin hatte keine Vorstellung, über welche Themen sie mit Sylvie reden könnte, hatte keinerlei Erfahrung mit solchen Situationen und löffelte deshalb so eifrig ihre Suppe, als wäre sie halb verhungert. Angestrengt versuchte sie, den Blickkontakt mit Sylvie zu vermeiden, fühlte sich dadurch aber irgendwie schäbig. Innerlich hoffte sie, Alex möge schnell wieder an seinen Platz zurückkehren, doch das Telefonat schien etwas Wichtiges zu sein, das wohl länger dauerte.
Selin riss sich zusammen, straffte die Schultern und sah auf. »Ähm, welches Buch lesen Sie denn gerade?«, fragte sie strahlend, auch wenn sie ungern nur so tat, als sei sie locker. Sylvie liebte Bücher, das hatte sie schon geschnallt. Folglich musste dies ein sicheres Thema sein, wären da nicht Selins mangelnde Kenntnisse auf dem Gebiet der Belletristik.
Sylvie machte ein glucksendes Geräusch, bevor sie antwortete. »Oh, es ist ‚The Cider House Rules‘ von John Irving. Im Deutschen bekannt als ‚Gottes Werk und Teufels Beitrag‘. Eine sehr schöne Geschichte und typisch Irving eben.«
»Mhm«, bemerkte Selin ratlos und wusste wieder nicht weiter. Krampfhaft überlegte ihr Gehirn, welche nächste Frage die Unterhaltung aufrechterhalten könnte.
Sylvie hatte den Kopf geneigt und betrachtete sie eindringlich. »Sagen Sie Selin, darf ich fragen, woher Sie meinen Sohn kennen?«
Sie war sich nicht sicher, ob sie diese Details wissen durfte, hatte Alex sie doch ausdrücklich darum gebeten, bei Selin auf persönliche Fragen zu verzichten! Aber war ihre Neugier nicht legitim? Und eigentlich haftete dieser Frage doch nichts Schlimmes an, oder? Ihre Verunsicherung ließ sie dennoch flüchtig zur Tür spähen.
Selin erinnerte sich an Alex‘ blau funkelnde Augen, die sie im Rückspiegel des Minivan zum allerersten Mal gesehen hatte. Sie hatte aber das sichere Gefühl, dass ihre Kennenlerngeschichte bei Sylvie Irritationen auslösen könnte, würde sie den Tatsachen getreu erzählt werden.
Womit sie genau richtig lag ...
Also musste eine allgemein verträgliche und zudem glaubwürdige Version her, schließlich konnte sie schlecht eine Antwort verweigern.
»Wir kennen uns nur flüchtig von früher, ähm, von der Schule. Ich hatte zufällig noch seine Handynummer im Kopf und habe ihn vom Flughafen aus angerufen, weil ich ... ähm ... » Stopp! Was? Wie war das? Von früher kennen? Von welcher Schule denn? Du hast keine Ahnung, welche Schule Alex besucht hat! Und wieso rufst du ihn an, wenn du ihn nur flüchtig kennst, und hast seine Handynummer im Kopf? Außerdem, Selin, sag mal, was hast du auf dem Flughafen verloren? Ehrlich, das war großer Bockmist gerade ...
Sie stockte erschrocken, nicht nur, weil ihre Geschichte auf einmal mehr als nur hanebüchen klang, da dummerweise der plausible Grund ihres Handelns fehlte, welcher das Ganze einleuchtend gemacht hätte, sondern, weil Sylvie sie mit einer überdeutlichen Skepsis im Gesicht wortlos anstarrte. Ihre Miene ließ unmissverständlich erkennen, dass sie Selin kein Wort glauben würde.
Zum Glück erschien Alex in diesem Augenblick im Türrahmen und zog die Aufmerksamkeit der beiden Frauen auf sich. Unruhe schwirrte in seinen Augen. »Ich muss leider noch mal los, aber es wird nicht lange dauern«, brachte er gehetzt hervor. «Ist das in Ordnung für euch? Oder ... oder nicht, hm?« Er wippte nervös auf den Fußballen vor und zurück. Selin sah ihn überrascht und auch verständnislos an. Sollte sie etwa hier bleiben, während er weg war?
Als er ihre
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