RECKLESS HEARTS
Wahrnehmung.
»Ich werde übermorgen vierundvierzig«, flüsterte sie einfach weiter. »Ich ertrag es nicht mehr, dich so zu sehen ... ich kann nicht mehr kämpfen, Shane, nicht um dich, nicht um uns, ich bin erschöpft ... ich«, sie zögerte, wischte sich mit dem Ärmel über die feuchten Augen und blinzelte durch verklebte Wimpern auf seinen alkoholisierten Schlaf. Er hatte mit einem Knie gezuckt, aber das Schnarchen ging unvermindert weiter.
Annie wusste, dass sie ihn diesmal nicht entkleiden und unter die Dusche stecken würde. Sie würde nicht in seinen Rausch eindringen und ihn in die Nüchternheit, die er fürchtete, zurückzwingen. Wenn er wieder zu sich kam, wäre sie bereits aus seinem Leben verschwunden ... diesmal für immer ... Es würde das einzig Richtige sein.
Sicher würde es für ihn neue Chancen geben. Darüber brauchte sich keiner Sorgen zu machen. Auch wenn er inzwischen mit seinen knapp vierzig Jahren ein wenig verlebt aussah und sein Körper die Folgen seines schweren Motorradunfalls von 1980 nicht vergessen hatte, war er doch immer noch attraktiv auf eine herbe, zeitlose Art.
Annie nahm tief Luft, umfasste die Türklinke und zog die Zimmertür leise zu. Mit geschlossenen Augen hielt sie inne und ließ den Atem wieder hinausströmen. Ein letztes Mal lief sie durch den kurzen Flur. Ihr Koffer wartete gepackt vor der Wohnungstür, ungeduldig wie ein Hund, der nach draußen wollte. Sie nickte zustimmend.
Mehr würde sie nicht mitnehmen.
Mit der Endgültigkeit ihrer Entscheidung kroch Kälte in ihr Herz. Stoisch streifte sie sich ihre Jacke über und verließ die gemeinsame Wohnung inmitten einer trostlosen Nachtzeit, in der brave Menschen längst schliefen. Sie streckte ihr Gesicht gen Himmel und schnupperte den Regen, der in der Wolkenschicht lauerte. Der Herbst wehte Melancholie durch Dublin und würde heute Nacht seine Tränen auf das Land loslassen.
Wunden konnten verheilen, niemand wusste das besser als Annie, die Krankenschwester. Aber es blieben immer Narben zurück ... ausnahmslos ... auch das wusste sie.
Wie eine Schlafwandlerin stieg sie in ihren Wagen, drehte das Radio laut auf und fuhr in die Klinik, obwohl sie am nächsten Tag, diesmal an einem Sonntag, frei hatte. Sie würde auf einer Pritsche im Erholungsraum schlafen. Keiner hätte etwas dagegen.
Und morgen würde sie weitersehen ...
Es war der Durst, ein übles Brennen in seiner Brust, das ihn aus dem dumpfen Schlaf holte. Auch die volle Blase, natürlich. Beides zusammen war enorm effektiv. Er bewegte die raue Zunge, die an seinem Gaumen klebte, schmeckte und roch den Whiskey, der immer noch durch seine Blutbahnen floss, und spürte den Aufstand in seinem Magen.
Seine Augen spähten durch kraftlose Lider und Haarsträhnen und sahen nur verschwommene Umrisse. Er drehte sich stöhnend auf den Rücken und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
Jemand musste Beton in seinen Kopf gefüllt haben. Unmöglich mit diesem schweren Schädel in die Vertikale zu kommen. Seine Muskeln schmerzten, als wäre er stundenlang durch eine eisige See geschwommen. Mit größter Anstrengung stemmte er sich hoch und blieb erstmal sitzen. Das Tageslicht war trüb und lustlos, drang nur zögerlich ins Zimmer, seine Augen brannten dennoch. Als der angedrohte Schwindel nicht kam, wagte er sich weiter vor, bis zum Bettrand, verweilte dort einige Sekunden, in denen er sich mit der Hand über das Gesicht fuhr, und ließ seinen Betonkopf kreisen, um die verhärteten Nackenmuskeln zu entspannen, was aber nichts nutzte.
Entschlossen und unter dem Druck der Bedürfnisse, die sein Körper immer dringlicher meldete, stellte er sich auf die wackligen Beine. Die ersten Schritte waren noch unsicher und er musste sich an Wänden und Türen abstützen, bis er das Bad erreicht hatte. Er pinkelte gefühlte drei Liter, wusch sich die Hände, dann das Gesicht, klatschte das kalte Wasser in seinen Nacken und ließ es in den Mund und durch den Rachen laufen. Zuletzt hielt er seine Unterarme unter den kalten Strahl, um den Kreislauf in Schwung zu kriegen. Ein Trick, den er von Annie gelernt hatte! Annie ...
Wo waren ihre ganzen Sachen, verdammt?
Verwundert sah er sich um und fand keine Kosmetika, keine Zahnbürste, keine Cremedöschen, Haarmittelchen oder sonstige Toilettenutensilien, die ihr gehörten, nichts ... einfach nichts ... was sehr merkwürdig war und mindestens genauso beunruhigend ...
Er torkelte aus dem Bad, stampfte zurück ins Schlafzimmer und
Weitere Kostenlose Bücher