RECKLESS HEARTS
greifen Sie rein!«
Sylvie schüttelte den Kopf.
»Ach kommen Sie, versuchen Sie ihr Glück«, insistierte der Weihnachtsmann, als wäre er blind für ihren unglücklichen Gemütszustand. Um ihn loszuwerden, griff sie in das Säckchen und holte ein kleines, als Geschenk verpacktes Schächtelchen mit einem Kärtchen-Anhänger hervor: Frohe Weihnachten wünscht ihnen Konditorei Liebke!
Der Weihnachtsmann war schon weg, bevor sie sich bedanken konnte. Sie ließ das Werbepräsent in ihre Manteltasche gleiten, während ihre Tränen ungezügelt weiterliefen.
Als Selin ihren Einkauf erledigt hatte und auf sie zulief, sah sie gleich, dass etwas nicht stimmte. Wenige flinke Schritte später stand sie vor ihr und nahm sie ohne Zögern in den Arm. Wortlos ertrug sie Sylvies Schluchzen und machte sich Vorwürfe, dass sie diese arme Frau dazu überredet hatte, ihr sicheres Heim zu verlassen.
»Schschscht, bitte. Wir gehen jetzt nach Hause, jetzt sofort«, flüsterte sie zärtlich und hielt ihr ein Taschentuch hin.
Sylvie nahm es dankbar entgegen, putzte sich Augen und Nase und hakte sich bei Selin unter. »Ich danke Ihnen«, sagte sie leise.
Der Schneefall hatte bereits aufgehört, als sie auf die Straße traten.
***
Die Wohnung empfing Alex mit absoluter Stille. Bewegungslos verharrte er im Flur, um zu lauschen, vernahm aber nicht das geringste Geräusch.
»Mama?«, rief er laut, »Wo seid ihr denn?«
Keine Antwort.
»Selin?«
Wieder blieb eine Antwort aus.
Er steckte überall den Kopf hinein, ein Zimmer nach dem anderen, zuletzt in der Küche, wo sie auch nicht waren, suchte nach einer hinterlegten Notiz, fand nichts, nirgends, lief in Sylvies Zimmer, was er nur äußerst selten tat und nur während ihrer Anwesenheit, und sah in die Schublade ihrer Kommode. Ihr Handy lag dort leblos und unnütz wie befürchtet. Frustriert zog er die Tür hinter sich wieder zu.
Okay, kein Grund zur Aufregung , dachte er nervös. Seine Mutter hatte sich offensichtlich mit Selin aus der Wohnung gewagt, was erstaunlich war, eine erfreuliche Überraschung sogar, und was demnach auch bedeutete, dass Selin nicht fort war, oder? Sicher würden sie bald wieder zurück sein. Gemeinsam. Ganz sicher!
Was wenn nicht?
Er radierte diese unsinnige Frage, kaum dass er sie gedacht hatte, aus seinen Gedanken, ging zurück zur Garderobe und zog Jacke und Schuhe aus. Nachdem er seinen Rucksack von der Türschwelle aus in eine Ecke seines Zimmer geschleudert hatte, lief er ins Badezimmer, wo er seine abstehenden Haare in Ordnung brachte und sich die Hände wusch. Anschließend eilte er in sein Zimmer zurück, streifte seinen Pulli über den Kopf und warf ihn auf einen Sessel. Immer war ihm viel zu warm, wenn er von draußen kam, doch nun glühte er, als hätte er Fieber.
Er setzte sich an den Schreibtisch, fuhr den Computer hoch und ließ unruhig den Kopf kreisen. Wie aufgekratzt er doch war, euphorisch fast, und gleichzeitig so schmerzvoll angespannt, weil er genau spürte, dass sein Leben auf eine radikale Weise durchgerüttelt wurde. Alles drohte aus den Fugen zu geraten und würde sich anschließend neu ordnen müssen. Obwohl er inzwischen fest an dieses Szenario glaubte, konnte er die Gründe nicht wirklich dingfest machen. Die einzigen Fakten waren der finanzielle Befreiungsschlag, den sein Gewinnanteil ermöglicht hatte, und die nette Restsumme von knapp dreitausend Euro, die jetzt in seinem Regal in einem Schuhkarton ruhte.
Eine ungeheuerliche Spannung baute sich in ihm auf, und er hatte keine Ahnung, wie er sie bändigen sollte.
Alex saß wie auf Kohlen und hätte am liebsten geschrien. Er drückte die Fingerspitzen gegen den Kopf, sprang schließlich auf und stellte sich ans Fenster. Die Hände in die Hüften gestemmt merkte er selber, wie sich sein Brustkorb viel zu hektisch hob und senkte.
Draußen schneite es so stark, dass man kaum noch etwas erkennen konnte. Längst war es schon Mittag durch, und das Tageslicht trübte sich bereits.
Wo waren die beiden?
Stampfend lief er in die Küche und riss den Kühlschrank auf. Geistesabwesend starrte er hinein, sah unbeeindruckt durch alles hindurch, knallte die Kühlschranktür wieder zu und setzte sich auf den Tischrand. Mit zwei Fingern klopfte er unkontrolliert gegen die Obstschale, versuchte dem hellen Klang zu folgen, während seine Gedanken wild durch seine Erinnerungen sprangen: Sylvies Lethargie war in den letzten Monaten schwer zu ertragen gewesen, wahrscheinlich genauso
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