RECKLESS HEARTS
er die ganze Zeit gewesen war, und wie unbedarft, oh Mann, war noch ganz benommen von der Tatsache, dass er sich und seine Mutter gerade von allen Schulden befreit hatte, wollte nicht mehr mit »Herr Böller« angesprochen werden, vermisste Selins Stimme, ihren melancholischen Blick, bekam plötzlich schlimme Angst, sie könnte schon weg sein, wenn er nach Hause zurückkehrte.
Eilig schritt er hinaus, kniff die Augen zusammen, als ihm ein eisiger Windstoß ins Gesicht peitschte, zog die Kapuze seines Pullis über den Kopf und den Reißverschluss seiner Jacke zu.
Er lächelte. Atmete tausend Sorgen aus.
Ein paar blieben noch ...
Im selben Moment begann es wieder zu schneien, erst zaghaft, dann zunehmend heftiger. Er sah sich nach einem freien Taxi um, hatte seine Maschine bei dem Wetter schlauerweise stehen lassen. Als er endlich eins entdeckte, pfiff und winkte er es mit heftiger Gestikulation herbei, öffnete die Beifahrertür und sprang schnell hinein.
Das Taxi war nur unwesentlich schneller als die Fußgänger. Alex sah aus dem Fenster und übte sich in Geduld. Bei diesen Wetterbedingungen dauerte der kurze Weg nach Hause dreimal so lang. Egal. Hauptsache sie war noch da, wenn er ankam ...
***
Fast zur selben Zeit, als Alex das Taxi bestieg, trat Selin mit Sylvie aus dem Haus. Es war kaum zu glauben, dass sie mitten in der Großstadt waren, so hoch lag der Schnee schon, hatte parkende Autos in weiße Hügel verwandelt, und jetzt fiel von dem faszinierenden Weiß noch mehr vom Himmel, als würde Frau Holle die Betten einer ganzen Kompanie ausschütteln.
Mit vorsichtigen kurzen Schritten stapften sie durch die Seitenstraßen in Richtung Einkaufsmeile. Inzwischen durften sie beide feststellen, dass sie die Kälte ziemlich unterschätzt hatten.
»Liebchen, Sie werden sich noch den Tod holen«, rief Sylvie laut, als wäre Selin weit weg, dabei lief sie dicht neben ihr. »Ohne Mütze und Schal müssen Sie doch ganz furchtbar frieren!?«
Sylvie trug zum ersten Mal ihre selbstgestrickte weiße Wollmütze und einen uralten dicken Schal, den sie sich mehrfach um den Hals gewickelt hatte. Schnell zog sie ihn über Mund und Nase.
Die typisch mütterliche Fürsorge, die hinter ihrer Bemerkung steckte, ermutigte Selin, ihre höfliche Zurückhaltung aufzugeben. Kurzerhand hakte sie sich bei der liebenswürdigen Frau Böller - die so nicht genannt werden wollte! – unter … und zwar ganz fest, hemmungslos fest ... als wäre Sylvie ... was sie nicht war ... nein ... aber sie war Alex‘ Mutter, und Selin hatte diesen Alex gern ... mhm, leider ...
Ihr Mundwinkel zuckte erregt, als sie sich in Erinnerung rief, wie sie ganz dicht an seinem Gesicht ... Bei dem Gedanken lief ihr ein prickelnder Schauer über den Rücken und verwirrte sie. Das war alles nicht gut ... nicht gut ... gar nicht gut ...
Plötzlich hupte irgendwo ein Auto, ein anderes hupte verärgert zurück, und Selin schreckte auf, konzentrierte sich wieder auf den skurrilen Ausnahmezustand, in dem sie sich zusammen mit Sylvie und dem Berliner Wetter befand.
»Mein Kopf friert nicht so schnell«, behauptete sie, um Sylvie zu beruhigen. »Außerdem sagten Sie doch, wir müssen nicht weit laufen.«
Sylvie nickte. »Das stimmt, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass wir nur so langsam vorankommen würden«, nuschelte sie durch ihren Schal.
Es war keine Beschwerde, ganz im Gegenteil, die Bewegung tat ihr gut, die eiskalte Luft brachte ihren Kreislauf in Schwung, die dichten Schneeflocken gaben ihr Sichtschutz, machten sie fast unsichtbar, und Selin hielt sie wie selbstverständlich gegen ihre Seite gedrückt. Erstaunlich! Sie war wirklich eine bemerkenswerte junge Dame.
»Da drüben fangen schon die ersten Geschäfte an!«, rief Selin blinzelnd und zeigte in eine Richtung.
Sylvie hob den Kopf, um weiter als bis zwei Meter sehen zu können. »Ja, zum Glück, wir sind gleich da.«
Ein paar Minuten später traten sie in ein hell beleuchtetes, mit reichlich kitschiger Weihnachtsdekoration geschmücktes Einkaufszentrum. Bevor sie sich in der Eingangshalle orientierten, klopften sie sich den Schnee von der Kleidung, rieben sich die Feuchtigkeit aus dem Gesicht und stampften paarmal mit den Füßen auf.
»Ich war lange nicht mehr hier. Wie Sie sehen ... reihen sich viele Geschäfte aneinander, viele ...«, sagte Sylvie, etwas außer Atem.
Als Selin den bangen Ausdruck in Sylvies Gesicht bemerkte, lächelte sie mitfühlend und hakte sich erneut bei
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