RECKLESS HEARTS
schwer wie seine Rastlosigkeit. Zuletzt hatten sie kaum mehr als das übliche Geplänkel miteinander gesprochen, als ob sie beide wüssten, dass tiefgreifende Gespräche sie auf riskantes Terrain führen konnten.
Alex stöhnte. So viel Rücksichtnahme auf Gedeih und Verderb und wo blieb er, verdammt nochmal?
Im nächsten Moment musste er sich bei diesem Gedanken widerwillig schütteln, fuhr sich aufgewühlt durch die Haare und holte tief Luft. All ihre Entbehrungen und Opfer, ihre endlose Liebe und das Urvertrauen, das sie ihm von klein auf vermittelt hatte ... ja, das alles in die Waagschale gelegt, war sie ihm nichts schuldig geblieben! Sie waren quitt. Oder etwa nicht?
Nein, er hatte kein Recht, sich zu beschweren, und dennoch stand er an einem Wendepunkt ... und Selin hatte etwas damit zu tun.
Selin!
Sein Herz zuckte zuerst, dann der Rest seines Körpers, unmissverständlich. Er stöhnte ein zweites Mal auf, lächelte bittersüß - sie hätte dieses Lächeln mal sehen sollen! - und dann ... klingelte es an der Wohnungstür, während gleichzeitig jemand versuchte, aufzuschließen. Endlich!
Alex sprang sofort auf und hastete los.
Sie sahen fast wie Schneemänner aus. Er ließ sie erstmal hereinkommen und ihre Sachen ablegen, hatte die Hände unter die Achseln geklemmt und beobachtete sie aus sicherer Entfernung.
Sylvie ächzte und stöhnte und machte »Oh« und »Ah«, und dann endlich ein ganzer Satz: »Alex, du glaubst ja gar nicht, wie wir uns durch Schnee und Sturm nach Hause gekämpft haben!« Sie drehte sich zu Selin um. »Das war ganz schrecklich, Liebes ... schrecklich wundervoll, ich danke Ihnen!«
Alex schmunzelte erleichtert, als seine Mutter mit gesenktem Kopf an ihm vorbei in ihr Zimmer huschte. »Muss mich ... komplett umziehen«, rief sie schnaufend und mit laufender Nase, bevor sie die Tür hinter sich zustieß.
Jetzt blickte er zu Selin, schwer darum bemüht, einen möglichst gelassenen Eindruck zu machen. Als er ihre klatschnassen Haare bemerkte, spürte er den Impuls, ihr ein Handtuch zu holen, unterdrückte ihn aber schnell.
Sie hängte ihre Jacke auf und schlüpfte aus ihren Stiefelletten. Dann stand sie still da und sah ihn mit einer Unschuldsmiene an. Ihre Wangen waren von der Kälte draußen hochrot angelaufen. »Hi, Alex, wie geht‘s dir?«
Er steckte reflexartig die Hände in die Gesäßtaschen und antwortete ernst. »Gut, und dir? Wo wart ihr eigentlich?«
Sie schnappte sich ihren neuen Rucksack und lief auf ihn zu, so dass er gleich eine viel steifere Haltung annahm. »Na, ich brauchte neue Klamotten, und deine Mutter hat mich begleitet. Außerdem wollte ich in einem Reisebüro mal nach günstigen Flügen fragen.«
Als sie stehenblieb und zu ihm hochsah, musste er sich befangen räuspern. »Mhm, und ... weißt du schon, wohin es geht?«
»Nein, immer noch nicht, komisch was? Dafür hab ich mir einen Rucksack gekauft ... den hier ...« Sie hob ihn kurz hoch, und er nickte ausdruckslos. Selin nahm ihren Arm wieder herunter. »Danach sind wir gleich wieder nach Hause, weil ... Sylvie hat ... sie ... Das Wetter spinnt ja total, und ich hatte die Idee, dass ich mich besser im Internet mal umsehe, wenn du mir dabei hilfst. Und vielleicht können wir was für mich finden.«
Einen Moment lang starrte er sie mit unergründlicher Miene an. »Ja, klar, kein Ding!«
Selin nickte. »Ich geh mal ins Bad, mich umziehen, bin klitschnass, wie man sieht.«
»Mhm.«
Er zwang sich, ihr nicht hinterherzusehen, drehte sich aber doch blitzschnell um und rief: »Selin, im Badschrank sind Handtücher.«
Sie blickte über die Schulter und bedachte ihn als Dank für seine Aufmerksamkeit mit einem unwiderstehlichen Lächeln. Alex senkte den Blick, eilte in sein Zimmer und versuchte, das heillose Durcheinander seiner Gefühle zu ordnen.
Natürlich vergeblich ...
Minuten später erschien sie in ihren neuen Klamotten im Türrahmen - hatte zur dunkelblauen Jeans den roten Strickpulli angezogen, der ihre Brüste und die schmale Taille ordentlich zur Geltung brachte - und verkündete: »Bin so weit ...«
Nichtsahnend drehte er sich samt Stuhl zu ihr um.
Als er sie erblickte, richtete er sich abrupt auf, verschränkte die Arme vor der Brust und ... antwortete nicht ...
War schlichtweg sprachlos.
Verunsichert hob sie die Augenbrauen. »Äh, Alex, entschuldige, wenn du gerade arbeitest, will ich dich nicht stören.«
»Schon in Ordnung«, gab er zurück, versuchte nett zu lächeln. »Setz
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