RECKLESS HEARTS
es zu wissen, hatte sie ohne Vorwarnung mit der Tatsache konfrontiert, dass sie außer ihrer eigenen starren Sicht auf Alex‘ angebliches Wohl keine andere zugelassen hatte, dass sie ausgerechnet ihm, den sie mehr liebte, als alles andere auf der Welt, das Grundbedürfnis, beide Elternteile zu kennen, abgesprochen hatte, als könne man so etwas erfolgreich eliminieren, wenn man früh genug damit anfing ...
Nun hatte es sie kalt erwischt.
Sylvie musste sich die Frage stellen, ob sie womöglich einen großen Fehler begangen, eine Schuld auf sich geladen, gar gesündigt hatte ... aus eigennützigen Motiven heraus ...
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft! Wie eine riesige Flutwelle bäumten sie sich vor Sylvie Böller auf ... doch diesmal bekam sie - Wunder oder nicht - keine Panikattacke ...
«Sie müssen nicht mitkommen, wenn Sie nicht wollen!«, sagte Selin, so wenig überzeugend, wie es nur ging, setzte dabei eine enttäuschte Miene auf, die filmreif war.
»Jetzt ... essen Sie endlich mal Ihren Toast, Liebchen. Das kann man ja nicht mit ansehen«, entgegnete Sylvie der verdutzten Selin und hob dabei einen Mundwinkel, der zweite folgte hinterher, der Hauch eines Lächelns schlich sich ganz allmählich in ihr Gesicht und überraschte vor allem sie selber. Nach wie vor war sie vollkommen durcheinander, ja verstört sogar, aber nicht panisch ... das nicht!
Die Wohnung verlassen? Sich unter Menschen begeben? So tun, als ob man dazugehörte? Als ob man ein ganz normaler Mensch in einem ganz normalen Leben war?
Aber draußen liegt Schnee, sauberer, knirschender Schnee, sogar auf den Straßen, die Bäume sind mit Puderzucker bestreut und mit Eiskristallen behängt, die Menschen lachen, obwohl sie frieren, die Kinder flippen aus, Schneebälle fliegen, alles klingt gedämpft, viel leiser als sonst, und bald ist Weihnachten ...
Es würde Sylvie viel Kraft kosten und noch mehr Mut, aber sie wollte die Herausforderung annehmen. Schließlich hatte Selin sie freundlich darum gebeten, wollte unbedingt ihre Hilfe, die konnte sie ihr doch nicht verweigern ...
Und der Schnupfen? Ach, der war doch harmlos! Die kalte Luft würde ihren Nebenhöhlen gut tun und sie trösten.
***
Der Bankangestellte verzog keine Miene. Er hätte ein Roboter sein können, so einer wie der Terminator: menschliches Aussehen, aber innen drin nur eine kalte Maschine. Nach einer überaus höflichen Bitte um Verständnis, dass er Alex würde kurz warten lassen müssen, verschwand er für einige erstaunlich lange Minuten aus dem Schalterraum in die ominösen Hinterzimmer, wo die unsichtbaren Vorgesetzten halblegale Ideen zur Profitoptimierung diskutierten.
Alex wartete geduldig, wartete länger als er gedacht hatte, verstand aber, dass sein Anliegen heute ein wenig außergewöhnlich war, da er eine größere Menge Bargeld auf ein Girokonto - das seiner Mutter nämlich - einzahlen und einige Kontobewegungen durchführen wollte.
Als der Bankangestellte zurückkehrte, war seinem Gesichtsausdruck in keinster Weise zu entnehmen, zu welchem Ergebnis seine Konsultation mit dem Chef geführt hatte.
»Wenn Sie bitte mitkommen würden«, sagte er und führte Alex in einen durch Glaswände getrennten Seitenbereich, wo Kundenberatungen ungestört und sitzend stattfinden konnten.
Von da an lief alles reibungslos ab, auch wenn das Procedere zeitaufwendig war und Alex‘ Geduld strapazierte: Kontovollmacht und Ausweis wurden auf Authentizität und Gültigkeit gecheckt, Formulare ausgefüllt und unterschrieben, Durchschriften gereicht. In der Zwischenzeit gingen die Geldscheine durch die Echtheitskontrolle.
»Bei einem Betrag von zehntausend Euro brauchen wir laut GWG keinen Herkunftsnachweis der Scheine, Herr ... äh ... Böller, aber müssen Sie darauf hinweisen, dass ... «
»Ja?«
»... dass Sie bei weiteren Einzahlungen in nächster Zeit möglicherweise die Grenze überschreiten, und dann müssten wir Sie doch um einen Nachweis bitten. Das nur zu Ihrer Information«. Der Mann klang so, als wäre ihm diese Aufklärung unangenehm, konnte aber mimisch nicht überzeugen.
»Danke, ich weiß Bescheid«, sagte Alex und nahm seine Dokumente wieder an sich.
»Dann vielen Dank für Ihr Verständnis und einen schönen Tag, Herr Böller.«
Ungeduldig ergriff Alex die ausgestreckte Hand des Mannes. »Danke, Wiedersehen«, murmelte er, schielte schon nach draußen, wollte endlich raus aus dem Laden, merkte auf einmal mit voller Wucht, wie nervös
Weitere Kostenlose Bücher