RECKLESS HEARTS
dich einfach hier hin ... Ich hol noch einen Stuhl.«
Dann stand er auf, lief an ihr vorbei und aus dem Zimmer.
Selin nahm vorsichtig in seinem Schreibtischstuhl Platz, legte die Arme auf der Lehne ab, hob ihre Füße vom Boden und machte mit einem Schwung eine komplette Umdrehung wie auf einem Karussell. Dann hielt sie den Stuhl abrupt an und blickte auf den Bildschirm. Da war wieder die interessante Grafik des PC-Spiels, an dem er tüftelte.
***
Sylvie stand bis auf die Unterwäsche entkleidet zwischen den Türen ihres Kleiderschranks und spürte mit beiden Händen, die sie flach auf ihre linke Brust presste, dem Pochen ihres Herzens nach. Wieder kamen Tränen, diesmal ganz spontan, doch sie kniff die Augen so fest zusammen, dass keine einzige entwischen konnte.
Weil sie nicht wusste, was um alles in der Welt mit ihr geschah - und nicht darüber nachdenken wollte - bekreuzigte sie sich hastig und stieß ein kurzes Gebet aus. Just im Anschluss musste sie laut niesen, was sie daran erinnerte, sich endlich anzukleiden.
Auf dem Flur waren Alex‘ dumpfe Schritte zu hören. Er lief ganz offenbar in die Küche und kurz darauf wieder zurück in sein Zimmer. Sylvie setzte sich auf den Bettrand und betrachtete ungläubig ihren über den Stuhl geworfenen feuchten Mantel. Sie fragte sich, ob sie die Welt da draußen mied, weil sie Angst vor ihr hatte, oder weil sie ihr etwas schuldete?
Was für eine seltsame Frage das doch war!
Seit Alex nach mehreren Tagen und Nächten der Abwesenheit, die eine Zumutung für sie gewesen waren, aufgetaucht war und am selben Tag noch dieses Mädchen hergeholt hatte, wollten ihre Gedankengänge nicht mehr in üblicher Weise ablaufen. Plötzlich meldete sich ihr Gewissen, statt sich weiterhin still zu verhalten, Schuldgefühle wie aus einem fernen Schattenreich tauchten auf und wollten etwas von ihr. Doch anstelle sich verängstigt zu verkriechen, hatte sie paradoxerweise genug Selbstvertrauen aufgebracht, um sich in ein Einkaufszentrum zu trauen ... auch wenn sie dort geweint hatte ...
Die Flashbacks waren so intensiv gewesen ... sie kamen immer öfter ... ungnädige Flashbacks ...
Und schließlich noch dieser neue, fremdartige Drang in ihr, sich der Frage zu stellen, was all das zu bedeuten hatte? Warum tat sie sich das an? Und woher nahm sie den Mut dazu?
Sylvie schüttelte heftig den Kopf, als wolle sie ihre Gedanken stoppen.
Sie stand auf, lief zum Stuhl, griff in ihre Manteltasche und holte das kleine Geschenk vom Weihnachtsmann hervor. Das Päckchen war nicht größer als eine Mandarine. Vermutlich war es nichts anderes als Schokolade oder ein Ministück Kuchen, da es ein Werbegeschenk einer Konditorei war. Sie riss die Verpackung ein, zog das grüne Papier Stück für Stück herunter und hatte schließlich ein kleines goldfarbenes Schächtelchen in der Hand. Seufzend betrachtete sie es auf ihrer Handinnenfläche. Dann setzte sie sich wieder aufs Bett und hob den Deckel ab.
Es war ein kleiner Engel aus durchsichtigem Glas mit goldenen Flügeln … ein Anhänger, vermutlich für den Christbaum gedacht. Er war sehr schön.
Sie schob den Zeigefinger durch die Schlaufe am Kopf der Figur und zog sie heraus. Um sie genauer betrachten zu können, hielt sie sie dicht vor die Augen und entdeckte die eingravierte Schrift auf ihrer Brust: Dein Schutzengel , stand da.
Sylvie schmunzelte gerührt.
Dann legte sie den Engel in ihre Schublade, putzte ihre Nase und ging in die Küche.
***
Alex versuchte, Selins Arm nicht zu berühren, während er die Suchbegriffe »Billigflüge«, »Europa« und »Last-Minute-Flüge« in die Google-Suchmaschine eingab. Sie saßen dicht nebeneinander, alle Muskelfasern maximal angespannt, der Herzschlag beschleunigt, und starrten vermeintlich konzentriert auf den Computerbildschirm.
»Wie viel darf denn der Flug kosten?«, wollte er wissen.
»Na ja, möglichst nicht viel«, antwortete sie vage. »Ich brauche nur einen Hinflug ... Ich muss mit meinem Geld auskommen, bis ich einen Job gefunden hab.«
Ihr kurzer Seitenblick ließ ihn innerlich zusammenzucken, konsequent behielt er den Blick auf dem Bildschirm.
»Ich will mich ja nicht in deine Pläne einmischen ...«, begann er vorsichtig, »frage mich bloß, wie du dir das alles vorstellst? ... Du landest in einem fremden Land, suchst dir dann auf gut Glück eine Bleibe. Und dann? Wie willst du einen Job finden?«
Er sah sie immer noch nicht an.
»Ich frage in Cafés und
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