RECKLESS HEARTS
ihr unter. »Kommen Sie, Sylvie, wir beeilen uns. Ich brauch nur Pullis, Hosen, paar T-Shirts, Strümpfe und Unterwäsche. Nichts Besonderes. Ich probier was an, und sie sagen, ob es passt.«
Sylvie nickte unsicher.
Sie hatte es bis hierher geschafft und wollte nicht aufgeben, auch wenn ihr Herz laut gegen ihren Brustkorb klopfte und ihre Knie zitterten. Selin zog sie schnurstracks mit sich in das nächste Bekleidungsgeschäft, lief direkt zu den Regalen mit den Jeans, suchte sich zwei Hosen zum Anprobieren aus, schnappte sich auf dem Weg zu den Umkleiden noch drei schlichte Strickpullover in Blau, Grau und Rot und verschwand in einer Kabine, während Sylvie auf einer schmalen Bank sitzend auf sie wartete. Eine Minute später trat sie aus der Kabine heraus und drehte sich vor Sylvie im Kreis.
»Passt doch, oder? Was sagen Sie?«
»Ja, das sieht hübsch aus«, fand Sylvie. »Die Jeans sitzt wie angegossen. Sie haben wirklich eine hübsche Figur, Liebchen.«
Selin verschwand wieder hinter ihrem Vorhang, nur um sich eine Minute später mit einem der Pullover zu präsentieren. »Und wie finden Sie den?«
»Schön. Figurbetont, aber schön, wirklich.«
»Okay! Dann nehm ich beide Hosen und alle drei Pullis. Die Größen sind eh identisch.«
Die T-Shirts, die sie in weniger als einer Minute von der Stange pflückte, probierte sie erst gar nicht an. Bei den Accessoires griff sie nach der erstbesten Wollmütze, einem Schal und Handschuhe, allesamt in Schwarz, packte noch ein paar Strümpfe, die auf dem Grabbeltisch vor der Kasse lagen und ein paar Thermoleggings dazu, bezahlte das Ganze, nahm die prallgefüllte große Tüte entgegen und hakte sich wieder bei Sylvie unter. »Kommen Sie«, sagte sie beschwingt. »Wir können hier endlich raus.«
Sylvie schien sichtlich erleichtert, dass der Kleidereinkauf abgehakt war. Ihre permanent gekräuselte Stirn entspannte sich langsam. »Sie sind aber wirklich schnell, Selin!«, sagte sie.
Nach ein paar Schritten blieb Selin zögernd stehen und sah Sylvie ins Gesicht. »Die Sache mit dem Reisebüro ... Also, ich könnte stattdessen mit Alex‘ Hilfe im Internet suchen, dachte ich. Da kann man sich doch auch über Flüge informieren und sogar buchen.«
Diese Idee kam Sylvie durchaus gelegen. »Sicher könnten Sie das. Das ist weitaus bequemer und geht auch schneller, würde ich meinen.«
»Dann könnten wir jetzt nach Hause, wenn Sie möchten?«
»Ich habe nichts dagegen, wenn ich ehrlich bin«, entgegnete Sylvie erfreut.
»Nur eine Kleinigkeit noch, bitte! Dort drüben, dieses Taschengeschäft. Ich besorg mir da mal schnell einen Rucksack, wo ich mein ganzes Zeug reintun kann, laufen Sie nicht weg, ja!« Kurzerhand ließ Selin Sylvie stehen und eilte in den gegenüberliegenden Laden. Sylvie sah ihr stumm hinterher. Einen Moment später verzog sie sich an den Rand der Halle, damit sie niemandem im Weg stand, und beobachtete, wie Selin mit einer Verkäuferin redete. Unterschiedlich große Reiserucksäcke in verschiedenen Farben wurden ihr daraufhin gezeigt. Selin tippte entschlossen auf einen dunkelgrünen, der gut zu ihrer Größe passen würde.
Als Sylvie das sah, hielt sie den Atem an. Die Flashbacks überfielen sie aus dem Hinterhalt, rissen sie mit Gewalt zurück in eine Zeit jenseits ihrer Realität ... Einst hatte sie einen ähnlichen Rucksack besessen ... war mit ihm in ein wunderschönes Land gereist, hatte eine neue Welt betreten, war dort verzaubert worden, hatte großzügig ihr Herz verschenkt, doch das Seine nicht bekommen ... also hatte sie auch etwas behalten, etwas, was nur ihr gehören sollte ... und hatte dieses Geheimnis niemandem erzählt. Nicht dem Vater, nicht dem Sohn!
Großer Gott, vergib!
Wie in Trance lief sie langsam weiter rückwärts, bis sie im Rücken die Gebäudewand spürte, ihr Blick immer noch starr auf die junge Frau mit den langen dunklen Haaren gerichtet, die in Wirklichkeit wahrscheinlich ein Engel war, ein ganz spezieller ...
Die erste Träne quoll aus ihrem Augenwinkel und lief noch zärtlich ihre Wange hinab, fast so, als wolle sie nicht bemerkt werden. Doch dann kamen viele weitere, zu viele, und Sylvie weinte hemmungslos, hielt sich die Hand vor den Mund und versuchte nicht aufzufallen. Sie schloss die Augen, nur kurz, und als sie sie wieder öffnete, stand ein Weihnachtsmann mit einem kleinen braunen Säckchen vor ihr. »Möchten Sie ein kleines Präsent?«, fragte er mit einer frechen jugendlichen Stimme. »Kommen Sie,
Weitere Kostenlose Bücher