Reckless - Lebendige Schatten
sich um und öffnete eine der emaillierten Schubladen hinter sich. Die Herzen darin hatten jede Größe und Form. Einige waren klein wie eine Haselnuss und das größte sah tatsächlich nach einem gut erhaltenen Riesenherzen aus.
»Es gibt kein besseres Sortiment in ganz Vena.« Ein weiteres Lächeln, stolz wie das eines Blumenverkäufers, der seine besten Rosen anpries. »Der Zauber, der meine Ware konserviert, ist sehr aufwendig und nicht ganz ungefährlich, aber bei diesem Herzen war das natürlich nicht notwendig. Schließlich ist es das Herz eines Hexers. Ich muss wohl nicht erklären, welche Folgen das hat.«
Er griff nach einer silbernen Schatulle, die neben dem Riesenherzen stand. Das Herz darin war kaum größer als eine Feige und hatte die Konsistenz von schwarzem Opal. In die glatte Oberfläche war das Wappentier Guismunds gefräst. Der gekrönte Wolf.
»Es ist in tadellosem Zustand, wie Ihr seht. Schließlich befand es sich jahrhundertelang in kaiserlichem Besitz.«
Zuerst der Totengräber, Nerron.
Er drehte sich um und stieß ihm den Kopf gegen die Wand, bevor der Klotz begriff, was geschah.
»Wie dumm muss man sein, um einem Goyl den falschen Stein verkaufen zu wollen?«, zischte er dem Apotheker zu. »Glaubst du, unsereins ist so ignorant wie ihr und kann einen Opal nicht von einem versteinerten Hexerherzen unterscheiden? Ein schwarzer Stein sieht aus wie der andere, stimmt’s? Wofür hältst du meine Haut? Für Jaspis?«
Er stieß die Schatulle vom Tresen. Enttäuschend. Sehr enttäuschend. Selbst schuld, Nerron. Du willst das Herz eines Königs finden und suchst es im Schmutz! Reckless wäre nicht so dumm gewesen.
Er richtete die Pistole auf den schlotternden Apotheker und wies auf das Glas, das neben der Kasse stand. Zwischen Menschen- und Zwergenaugen schwammen auch zwei Goylaugäpfel.
»Probier die goldenen«, sagte Nerron, während er den Mondstein zurück in den Beutel füllte. »Ich bin sicher, sie schmecken besser. Und wer weiß, vielleicht siehst du meinesgleichen danach mit ganz anderen Augen.«
Die Idee, die ihm kam, während der Apotheker das erste Auge herunterwürgte, war schmutzig, aber inzwischen suchte er seit fast einer Woche nach dem Herzen, und Geduld war noch nie seine Stärke gewesen. Nerron packte die zitternde, blasse Hand, als sie sich erneut in das Augenglas schob. »Du kannst dir das zweite Auge ersparen. Hast du eine Hexenzunge? Aber diesmal ist es besser keine Fälschung.«
Der Apotheker zog hastig eine Schublade auf. Die Zunge, die er mit einer Zange herausklaubte, unterschied sich von den menschlichen Exemplaren nur durch den feinen Spalt in der Spitze. Nerron warf das falsche Guismund-Herz aus der Schatulle und legte die Zunge hinein.
Er war schon aus der Tür, als der Totengräber sich zu regen begann.
Er kam ihm nicht nach.
34
EIN SPIEL
V om Bahnhof zum Staatsarchiv brauchte man zu Fuß kaum eine halbe Stunde, aber alle großen Chausseen, die zum Schloss führten, endeten in Polizeisperren. Auf den Bürgersteigen drängten sich die Menschen fast so dicht wie am Tag der Blutigen Hochzeit, und Jacob kam es vor, als spülten ihn die Leiber wie Treibholz mit sich. Kami’en war in Vena. Es sollte eine Parade geben, um die Schwangerschaft seiner Menschenfrau zu feiern. Am Straßenrand dekorierten die Garden der neuen Kaiserin Laternen und Häuserfronten mit Girlanden. Es waren ausnahmslos Goyl. Amalie ließ sich nur von den Soldaten ihres Mannes bewachen. Es hieß, dass sie mit Vorliebe Männer aussuchte, die die Karneolhaut Kami’ens hatten. Die Girlanden waren mit Blüten aus Mondstein besetzt, und die Absperrungen, die die Straßen säumten, schmückten Zweige aus Silber. Doch alles, was Jacob sah, war Troisclerq, der Fuchs die Blüte ans Kleid steckte. Was war mit ihm los? Du bist eifersüchtig, Jacob. Hast du keine anderen Sorgen?
Er bog in die nächste Gasse ein – und stand erneut vor einer Straßensperre. Verdammt. Was machte er sich vor? Der Bastard hatte das Herz längst gefunden. Hör auf, Jacob. Aber er konnte sich nicht erinnern, jemals so müde gewesen zu sein. Nicht einmal die Angst vor dem Tod drang durch den Nebel in seinem Kopf.
Er zog den Stadtführer aus der Tasche, den er am Bahnhof gekauft hatte. Es war ein geschwätzig unhandliches Ding, dick wie ein Roman und winzig gedruckt, aber die Goyl hatten so viel in Vena verändert, dass er sich kaum noch auskannte. Das Archiv lag an einer der Straßen, an der die Parade vorbeiführen
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