- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
habe gehört, dass man davon blind werden kann«, sagte Lucie mit finsterem Blick, bevor sie nach einem Krug griff.
Valerie kostete davon und spuckte es gleich wieder aus. »Schmeckt wie verschimmelte Hafergrütze.«
Prudence sah sie beleidigt an. Ihr selber schmeckte es auch nicht, aber irgendwie fand sie, dass Valeries Urteil ein schlechtes Licht auf ihren Vater warf. »Umso besser, dann bleibt mehr für uns übrig«, raunzte sie.
»Roxanne?«, fragte Rose und hielt ihr hämisch den Krug hin, obwohl sie ihre Antwort bereits kannte.
»Ich habe das mit dem Blindwerden auch gehört.« Sie blickte umher wie in die Enge getrieben und fügte eilends hinzu: »Sonst würde ich.«
»Wie du willst.« Rose zuckte mit den Schultern. Vom Trinken ermutigt, platzte sie damit heraus, was ihr offensichtlich schon lange auf der Zunge brannte. »Henry mag dich angesehen haben, Valerie, aber mich hat er an der Schulter berührt, als er diese Woche in der Kirche an mir vorbeigegangen ist.«
»Wie berührt?«, erkundigte sich Roxanne.
»Sehr sanft und süß.« Rose demonstrierte es an Valerie. In einer ihrer seltenen Anwandlungen von mädchenhaftem Ernst fragte sie: »Glaubt ihr, das heißt, er wirbt um mich?«
»Bestimmt!«, erwiderte Roxanne optimistisch.
Lucie errötete leicht. Ihr war es immer unangenehm, wenn so über Jungs gesprochen wurde.
»Irgendwann musst du dich ja doch mit ihnen abgeben, Lucie«, schalt Roxanne mit ihr. »Los, stell dir einen vor, der gut aussieht …«
Lucie strahlte und vor lauter Lachen und Verlegenheit traten ihr Tränen in die Augen. Lächelnd lehnte sie sich zu Valerie hinüber und vergrub ihr Gesicht in ihrem Schoß.
Das Gespräch der Mädchen erlahmte und draußen wurde es tiefschwarze Nacht. Es war ihnen nicht unangenehm, gemeinsam zu schweigen und nur den Elementen zu lauschen.
Valerie blickte hinab auf Lucie, die in ihrem Schoß eingeschlafen war, die Hände unter der Wange verschränkt. Komisch, aber manchmal kam sie sich selbst wie die ältere Schwester vor.
»Habt ihr euch schon mal gefragt«, erkundigte sich Rose und beugte sich in den Kreis vor, »wie Henry aussieht …«
»Wie er aussieht?« Roxanne zog verwirrt ihre Stupsnase kraus.
»Ohne was an?«, platzte Rose heraus.
»Iiih! Nein! Du etwa?«
Rose grinste verschmitzt und warf ihr Haar zurück. »Ich glaube schon, sonst würde ich wohl nicht fragen.« Zu der Szene, die sich Rose ausmalte, gehörten selbstverständlich ein knisterndes Feuer, dekorative Tierfelle und Kelche voll Wein.
»Einmal habe ich meinen Vater gesehen«, warf Prudence ein.
Die Mädchen kreischten, gleichermaßen begeistert wie angeekelt, beruhigten sich aber sofort wieder. Tee hin oder her, sie könnten Prudences Mutter aufwecken.
Lucie, den Kopf noch in Valeries Schoß gebettet, erwachte von ihrem Geschrei, und im selben Augenblick entdeckte Valerie am anderen Flussufer Peters Zeichen – das schwache Flackern einer Kerze.
»Gehen wir!«
Lucie schaute benommen zu ihr auf. »Warum die Eile?«, fragte sie und kniff die Augen zusammen. Sie kannte ihre Schwester gut. Nur zu gut.
» Weil …« Valerie überlegte rasch. »Weil wir unsere Zeit verschwenden. Wir müssen jetzt über den Fluss, bevor die Wirkung des Tees nachlässt.«
Die Mädchen schauten einander an und dann zum Fluss, der unablässig gegen das Ufer plätscherte. Valerie hatte recht.
Es wurde Zeit.
Kapitel 6
A ls die Mädchen flussabwärts ruderten, wären sie nie auf den Gedanken gekommen, dass Valerie das Boot auf Peters Signal zusteuerte. Das Kerzenlicht war verloschen, aber sie hielt die Augen auf die Stelle gerichtet, wo es geflackert hatte, und wusste genau, auf welchen Punkt in der Dunkelheit sie zuhalten musste.
Roxanne lehnte sich nervös aus dem Boot und betrachtete ihr verzerrtes, schattenhaftes Spiegelbild im Fluss. Sie fand, dass das Wasser wie tintenschwarzes Blut aussah, versuchte sich aber einzureden, dass es mehr Ähnlichkeit mit Brombeersaft hatte.
Prudence nutzte die Gelegenheit. Sich auf beiden Seiten festhaltend, brachte sie das Boot zum Schaukeln und Roxanne rutschte mit einem spitzen Schrei auf ihren Platz zurück. Prudence lachte schadenfroh und in ihren Augen blitzt es schelmisch. Roxanne funkelte sie an und bespritzte sie mit Wasser.
Zwischen den Bäumen oberhalb des Ufers waren drei verschiedene Lagerfeuer auszumachen und die Mädchen ruderten gekonnt darauf zu. Sie konnten Dinge, die andere Mädchen nicht konnten. Sie legten sich in die Riemen und
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