- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
Veranda auftauchte.
Er trat auf sie zu, schlug die Kapuze seines Mantels zurück und …
Es war Valerie.
Großmutter schüttelte den Kopf und ihre Anspannung entlud sich in einem Lachen. »Mein Schatz, Kleines, was tust du denn hier?«
Valerie runzelte die Stirn. »Warum sollte ich nicht mit ihnen gehen? Sie war schließlich meine Schwester.«
Großmutter seufzte und nahm sie in die Arme. »Du bist in dem dünnen Mäntelchen ja schon jetzt ganz durchgefroren. Ich glaube nicht, dass du das durchstehst.«
»Na ja, ich auch nicht«, sagte Valerie zitternd, als Großmutter sie unter dem Klimpern ihrer Amulette und Talismane nach drinnen führte.
Es tat Valerie gut, hier zu sein, in Großmutters verwildertem Baumhaus. Äste wuchsen durch das Dach, Winterlöwenzahn spross aus den Dielen und jede Ecke barg irgendein Nest. Das Baumhaus war vollgestopft mit merkwürdigen Dingen. Valerie ließ ihren Blick durch die kleine Stube wandern. Muschelschalen wie riesige Ohren, ein Nadelkissen mit eingelegtem Perlmutt, ein Trinkhorn, getrocknete
Süßkartoffeln, eine Geierklaue. An den Wänden hingen schmutzige Pfauenteppiche in verblassten Rosa- und Blautönen und mit ausgefransten Säumen, und darunter reihten sich endlos Flaschen, auf denen schiefe Korken saßen. Auf dem Herd zitterte ein großer Teekessel.
Valerie liebte Großmutters Art zu leben, auch wenn die Leute im Dorf sich darüber den Mund zerrissen und lustig machten. Und manch einer Großmutter sogar die Schuld daran gab, dass der Wolf das Dorf heimsuchte.
»Du brauchst deinen Schlaf.« Großmutter reichte Valerie eine dampfende Tasse mit ihrem Salbeitee.
Valerie ließ den Tee stehen, trat ans Fenster und beobachtete, wie die Männer durch den dunklen Wald marschierten. Sie blickte zu dem Felshang und beobachtete, wie der kalte Wind durch die schneenassen Bäume fegte, er starkte noch einmal auf und zerrte an den brennenden Fackeln der Männer, als sie hintereinander den steilen Hang hinaufstiegen und in der Höhle verschwanden. Eine Fackel gehörte ihrem Vater, eine dem Mann, den sie liebte, und eine andere dem Mann, den sie haben könnte. Alle waren nur noch kleine Lichtpunkte in der Ferne. Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, und wandte sich vom Fenster ab.
Wer wird zurückkommen? Wird überhaupt irgendeiner zurückkommen?
Ein plötzliche Böe ließ sie zusammenzucken. Mit Schrecken stellte sie fest, wie leicht der Wind das Fundament des Baumhauses, den mächtigen Stamm und die dicken Äste, erschüttern konnte.
Alles war aus den Fugen.
Lucie war tot.
Valerie konnte es fühlen, alle Schönheit war aus ihrem Leben
gewichen. Sie wusste, dass Lucie jetzt jenseits der Grenzen ihres Dachbodens, des Dorfes, des Landes und der Welt war. Dass sie nun an einem Anderort war, einem Nichtort.
»Ich bin ihre Schwester«, platzte es aus ihr heraus, und sie sank aufs Sofa. »Ich hätte bei ihr bleiben sollen.«
»Du darfst dir keine Vorwürfe machen«, erwiderte Großmutter, stellte ihr einen Teller mit Eintopf hin und streute zerriebene bittere Kräuter darüber. Sie schmeckten wie etwas, was man eigentlich nicht essen sollte.
»Wie meine eigene Großmutter zu sagen pflegte: ›Denn beim Brot …‹«
»›… ist geringer jede Not‹«, ergänzte Valerie ihre Hälfte des Sprichworts, das sie gut kannte.
Großmutter versuchte zu lächeln. Valerie machte sich die Mühe nicht.
»Ist dir noch kalt?«
Valerie nickte.
Wortlos verließ Großmutter den Raum. Valerie blickte aus dem Fenster. Die schneebeladenen Wipfel schwankten im stürmischen Wind und malten Schlangen in die Luft. Dann spürte sie, wie Großmutter von hinten an sie herantrat und ihr etwas über die Schultern legte. »Ist es so besser?«
Sie schaute an sich hinab. Es war ein schöner hellroter Mantel. »Großmutter …« Valerie hatte so etwas noch nie gesehen. Es war das Rot der Ferne, der Fantasie, ein Rot fremder Länder, ein Rot, wie man es in Daggorhorn noch nie gesehen hatte, ein Rot, das nicht hierher gehörte.
»Ich habe ihn für deine Hochzeit gemacht.«
Valerie blickte auf den Reif an ihrem Handgelenk. »Das ist nicht meine Hochzeit. Ich habe das Gefühl, dass ich verkauft werde.«
Peters Worte hallten in ihr nach, aber sie erwähnte sie nicht. Sie wusste, dass ihre Eltern nichts von Peter hielten. Aber was war, wenn er Lucies Tod rächte? Wenn er als derjenige zurückkam, der den Wolf erlegt hatte? Sie begann, sich auszumalen, wie er seinen Ruf wiederherstellte. Aber dann
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