Reflex
ging hinunter in die Küche, um mir etwas aus Eiern und Käse zu machen; und um den Gedanken an Harold noch etwas länger zu verdrängen, holte ich George Millaces Abfallschachtel aus dem Auto, stellte sie auf den Küchentisch, machte sie auf, nahm die Stücke heraus und sah mir eins nach dem anderen an.
Auch bei näherer Betrachtung wurde nicht einsichtig, warum er ausgerechnet diese Reste behalten hatte. Nichts sah nach einem interessanten oder einmaligen Fehler aus. Bei der Durchsicht kam ich verärgert zu dem Schluß, daß es Zeitverschwendung gewesen war, sie nach Hause mitzunehmen.
Ich nahm den Aktendeckel in die Hand, der den dunklen Abzug von dem am Tisch sitzenden schemenhaften Mann enthielt, und dachte zerstreut, daß es seltsam war, daß jemand sich die Mühe gemacht hatte, so einen überentwickelten Schrott in ein Passepartout zu tun.
Achselzuckend nahm ich den dunklen Abzug in die Hand … und in dem Moment fand ich Georges ganz persönliche Goldgrube.
5
Auf den ersten Blick erschien es nicht weiter aufregend.
Auf der Rückseite des Fotos war mit Tesafilm ein Umschlag aus schwefelfreiem Spezialpapier befestigt, wie umsichtige Fachleute es zur längeren Aufbewahrung von entwickelten Filmen benutzten. Im Umschlag war ein Negativ.
Es war das Negativ, von dem der Abzug stammte, aber während der Abzug bis auf ein paar dunkelgraue Stellen fast völlig schwarz war, war das Negativ gestochen scharf, mit vielen Einzelheiten und Glanzlichtern.
Ich hielt Abzug und Negativ nebeneinander.
Mein Puls beschleunigte sich nicht. Ich hatte keinen Verdacht, keine Theorien, nur meine Neugier. Da ich außerdem über die Mittel und Zeit verfügte, ging ich in die Dunkelkammer zurück und machte vier Abzüge im Format zwölf mal zehn, die ich unterschiedlich lang belichtete, von einer bis acht Sekunden.
Nicht einmal der am längsten belichtete Abzug sah genau wie Georges dunkles Foto aus. Also fing ich noch einmal von vorne an, mit der günstigsten Belichtungszeit von sechs Sekunden, und ließ das Foto so lange im Entwickler, bis die scharfen Umrisse zunächst dunkel wurden und dann weitgehend verschwanden, so daß ein grauer Mann übrigblieb, der vor einem schwarzen Hintergrund an einem Tisch saß. Dann nahm ich das Papier aus dem Entwickler und legte es ins Fixierbad; und ich erhielt einen Abzug, der dem von George fast aufs Haar glich.
Daß man einen Abzug zu lange im Entwickler ließ, war einer der banalsten Fehler, die man machen konnte. Wenn Georges Aufmerksamkeit abgelenkt gewesen wäre und er den Abzug zu lange im Entwickler gelassen hätte, hätte er einfach geflucht und das verdorbene Bild weggeworfen. Warum also hatte er es behalten? Und mit einem Passepartout versehen? Und das gestochen scharfe Negativ auf die Rückseite geklebt?
Erst als ich Licht machte und den besten der vier Abzüge, die ich zuerst gemacht hatte, genauer unter die Lupe nahm, fiel der Groschen. Und ich stand reglos in der Dunkelkammer und wollte nicht wahrhaben, was sich mir da offenbarte.
Mit einer Art Pfiff rührte ich mich schließlich wieder. Ich machte das Licht aus, und als sich meine Augen wieder an das rote Dunkelkammerlicht gewöhnt hatten, machte ich einen weiteren Abzug, viermal so groß und auf kontrastreicherem Papier, um das bestmögliche Ergebnis zu bekommen.
Dann machte ich das Licht wieder an, schob den fertigen Abzug in den Trockner und sah mir an, was herausgekommen war.
Herausgekommen war ein Foto von zwei in ein Gespräch vertieften Personen, die vor Gericht geschworen hatten, daß sie sich nie zuvor begegnet waren.
Jeder Irrtum war ausgeschlossen. Der schemenhafte Mann war jetzt als Café-Besucher erkennbar, der irgendwo in Frankreich an einem Tisch vor einem Café saß. Es handelte sich um einen Franzosen mit Schnurrbart, der zufällig dort saß, einen Teller und ein Glas vor sich. Das Café hatte einen Namen: Le Lapin d’Argent. Man sah Reklamen für Bier und Lotto im Fenster mit den Halbgardinen, und im Eingang stand ein Kellner mit Schürze. Drinnen saß eine Frau an einer Kasse vor einem Spiegel und sah auf die Straße hinaus. Jede Einzelheit war deutlich zu erkennen, mit bemerkenswerter Tiefenschärfe. George Millace wie gewohnt auf der Höhe seiner Kunst.
Zwei Männer saßen an einem Tisch vor dem Café, beide mit dem Gesicht zur Kamera, aber die Köpfe einander zugewandt, eindeutig in ein Gespräch vertieft. Jeder hatte ein halbvolles Weinglas vor sich, die Flasche stand auf einer Seite. Außerdem
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