Reflex
Schampus sprudeln.
»Probieren wir es also nochmal«, sagte ich.
»Sie haben eindeutig eine Schwäche für so was«, sagte Jeremy.
»Eine Schwäche? Meinen Sie für Fotografie … oder für Rätsel?«
»Für beides.«
»Na ja … stimmt wahrscheinlich.«
Ich stand auf und ging zurück in die Dunkelkammer, und er folgte mir wieder als Zuschauer. Im trüben roten Licht nahm ich einen neuen, hochempfindlichen 2556er Film von Kodak und entrollte ihn zu einem langen Streifen, den ich in fünf Stücke schnitt. Auf jedes einzelne Stück machte ich unter dem weißen Licht des Vergrößerers einen Abzug von dem fast leeren Negativ mit jeweils unterschiedlicher Belichtungszeit, von einer Sekunde bis zu zehn Sekunden. Nach dem Belichten kam jedes Stück des hochempfindlichen Films ins Entwicklerbad, und Jeremy schwenkte sie in der Flüssigkeit herum und beugte sich tief hinab, um zu sehen, was herauskam. Und heraus kamen – nachdem wir jeden Filmstreifen im richtigen Moment aus dem Entwickler genommen und ins Fixierbad gelegt und schließlich gewässert hatten – fünf Positive. Mit diesen Positiven wiederholte ich die ganze Prozedur und erhielt auf diese Weise wieder Negative. Bei hellem Licht betrachtet, zeigte sich, daß alle neuen Negative eine erheblich dichtere Struktur hatten als die Ausgangsnegative. Zwei zeigten ein erkennbares Bild … die Flecken waren zum Leben erwacht.
»Warum lächeln Sie?« wollte Jeremy wissen.
»Schauen Sie mal«, sagte ich.
Er hielt den Negativstreifen, den ich ihm gab, ins Licht und sagte: »Ich stelle fest, Sie haben deutlichere Flecken herausbekommen. Aber es sind trotzdem immer noch Kleckse.«
»Stimmt nicht. Es sind drei Bilder von einem Mädchen und einem Mann.«
»Woher wissen Sie das?«
»Man bekommt mit der Zeit Übung im Negativlesen.«
»Sie sehen so selbstzufrieden aus«, meinte Jeremy vorwurfsvoll.
»Um ehrlich zu sein«, sagte ich, »ich bin verdammt zufrieden mit mir. Trinken wir doch den Champagner aus und machen dann weiter.«
»Wieso weitermachen?« sagte er, als wir wieder bei unsern Gläsern in der Küche saßen.
»Abzüge von den neuen Negativen. Schwarzweißbilder. Die Enthüllung des Ganzen.«
»Was ist daran so komisch?«
»Das Mädchen ist nackt, mehr oder weniger.«
Er verschüttete fast sein Getränk. »Sind Sie sicher?«
»Man kann ihre Brüste erkennen.« Ich lachte ihn an. »Die sind sogar das Deutlichste auf dem Negativ.«
»Und … was … und ihr Gesicht?«
»Das werden wir gleich besser sehen. Sind Sie hungrig?«
»Du lieber Himmel. Es ist schon ein Uhr.«
Wir aßen Schinken und Tomaten und Vollkorntoast, machten den Schampus leer und gingen dann wieder in die Dunkelkammer.
Es war immer noch eine kitzlige Angelegenheit, von so schwachen Negativen Abzüge zu machen. Man mußte die richtige Belichtungszeit wählen und den Abzug genau im richtigen Moment aus dem Entwickler nehmen und ins Fixierbad legen, andernfalls bekam man nur ein mattes hell- oder dunkelgraues Blatt ohne Tiefe und Glanzlichter. Ich mußte mit den beiden besten neuen Streifen mehrere Versuche machen, bis ich wirklich sichtbare Ergebnisse bekam, aber zu guter Letzt hatte ich drei Bilder, die ziemlich scharf waren und mehr als scharf genug, um zu enthüllen, was George fotografiert hatte. Ich sah sie mir im hellen Licht unter einem Vergrößerungsglas an, und jeder Irrtum war ausgeschlossen.
»Was ist los?« sagte Jeremy. »Sie sind phantastisch. Unglaublich. Warum blasen Sie keinen Tusch und klopfen sich selber auf die Schulter?«
Ich legte die fertigen Bilder in den Trockner und spülte schweigend die Entwicklerschalen aus.
»Was haben Sie denn?« fragte Jeremy. »Was ist denn los?«
»Das ist das reinste Dynamit«, sagte ich.
9
Ich nahm Jeremy und die neuen Bilder mit nach oben und schaltete das Episkop ein, das auf seine unverwechselbare Art leise vor sich hinbrummte, während es warmlief.
»Was ist das?« sagte Jeremy und sah sich den Apparat an.
»So ein Ding haben Sie doch sicher schon einmal gesehen«, sagte ich überrascht. »Es ist allerdings ziemlich alt. Ich habe es von Charlie geerbt. Aber die gibt’s heute immer noch. Man legt etwas auf die Grundplatte hier, und das jeweilige Bild wird groß und deutlich auf eine Leinwand projiziert – oder in meinem Fall an die Wand. Sie können alles projizieren. Buchseiten, Illustrationen, Fotografien, Briefe, verdorrtes Laub. Funktioniert mit Spiegeln.«
Das Foto von Elgin Yaxley und Terence O’Tree war
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