Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Landschaft hängt an der Wand. Von einem Foto zwischen den Cassetten schaut dich ein kleines Mädchen an; ein Mann, der seine Tochter fotografiert, vielleicht Samstag für Samstag, wann immer er sie sehen kann, der ein Bild von seiner Tochter zum Anschauen haben will, im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, im Büro oder Spind, ein Bild ist ein schöner Ersatz. Der Mann öffnet eine Flasche halbtrockenen Sekt und entschuldigt sich kurz, er schneidet in der Küche Brote. Du folgst ihm nicht, bleibst allein im Zimmer. Seine Pistole hängt an der Garderobe im Vorraum, als würde er dir vertrauen (oder im Gegenteil, er hätte nicht gewagt, sie in deiner Gegenwart mit dem Halfter unter der Jacke hervorzuholen und an ihren Platz zu bringen).
Du sitzt da und trinkst, der Sekt vermischt sich in dem Fleischsack deines Inneren mit dem Saft, kein Gedanke an anderes ist nötig, auf dem Couchtisch liegen die Kronenzeitung und eine Autofahrerzeitung, alles ist aufgeräumt. Du sollst als ein Tier zu erkennen sein, als ein Embryo in seiner Fruchtblase. Der Mann kommt ins Zimmer, sie steht vom Sofa auf und setzt sich an den Tisch, er zögert, stellt die Brote ab, setzt sich ihr gegenüber, sagt nichts, schaut sie an, mit leerem Blick. Gerade fragst du dich noch, ob nicht doch etwas mit ihm anzufangen ist, er braucht es nicht zu wissen, dann öffnet er den Mund. Weißt du, ich fall nicht auf jede rein, ich kenne alle Tricks. Aber du bist schon etwas Besonderes. Ich versprech mir nichts, versteh mich nicht falsch. Er redet und redet und redet und macht alles falsch. Warum sind es alles Idioten. Sie kaut an einem Käsebrot (er hat Zahnstocher in Oliven und Cocktailtomaten gesteckt), sie könnte es einfach auf den Teppich spucken.
Wissen Sie, äfft sie ihn nach, mit ihrer heiseren Männerstimme, es stinkt in Ihrem Hirn. Sie wartet, was er tun wird. Im Sitzen spürt sie den Schlüssel in ihrer Hosentasche. Ihr Fuß liegt auf seinem Knie. Dieser unauffällige Mann, fast ein Tänzer, erstarrt in diesem Moment, sein Kinn schiebt sich nach vor, gleich wird er aufstehen, willst du mich provozieren, sagt er, mit gepresster Stimme, und das ist wieder genau das Falsche, du zuckst mit den Achseln, lieber Mann, mir ist ganz egal, was du sagst oder tust, alles ist zu wenig.
Später wird er sich schämen, von dem Mädchen zu erzählen (aber wem sollte er erzählen, es gibt keinen Anlass, er wird nicht hören, was mit ihr geschieht), er wird sich sogar schämen, an sie zu denken, er wünscht sich, sie wäre tot, und schämt sich auch dafür, aber nur ein ganz klein wenig, für ihn ist sie sowieso tot.
Auf zwei Bildern schauen die Mädchen direkt in die Kamera: ein Sofa, auf dem sie beide hingelagert sind, im Licht, das aus dem Garten hineinströmt; die eine, etwas weiter hinten, hat den Kopf abgewandt, er sieht nur ihr dichtes langes Haar, die andere, aufgerichtet, bewusst, dass sie gerade fotografiert wird, aber doch nicht in Pose, schaut ihn oder den, der, fotografierend, an seiner Stelle gewesen ist, an, mit einem merkwürdigen Blick, der ihm in dem anderen Foto wiederbegegnet, dort steht eines der Mädchen in einem dünnen Spaghettiträger-Kleid oder T-Shirt halbnah aufgenommen offenbar im Garten, vor dem unscharfen, dennoch leuchtend grünen Laub eines großen Baumes. Beide Gesichter zugleich sieht er nie. Er hält nicht inne bei diesen beiden doch besonderen Fotos, blättert den Stoß immer wieder durch, vielleicht um die Geschichte (eine Geschichte) ins Laufen zu bringen.
Was kann für ein Zusammenhang bestehen zwischen einem Gesicht, einem Grabstein und einem Zimmer. Was für eine Gewaltsamkeit, diesen Zusammenhang zu suchen, statt das Gesicht und das Zimmer für sich stehen zu lassen. Dort, wo sie existieren, in der Welt vor fünfzehn oder zwanzig Jahren; in der nichts und niemand auf dich warten wird, auf deine Blicke, deine trampelnden Schritte, deine Sucht nach Geschichten. Er findet ekelhaft, was er tut, schon als er den Namen Monica, Monika, Mona Stanek ins Suchfeld eingibt, dann Bilder zu diesem Namen sucht, was gibt es für einen Zusammenhang zwischen einem Bild und einem Namen. Er bekommt tausende Ergebnisse, keines entspricht einem der Mädchen aus den Fotografien (kann er das wirklich sagen, kann er die Züge eines Gesichts so gut weiterverfolgen?), wer vor mehr als zehn Jahren gestorben ist, der ist noch mehr gestorben als jemand, der heute stirbt und endlose Spuren in der endlosen Parallelwelt des Netzes hinterlassen wird. Er folgt
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