Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
wie er den ersten Teil der Nacht verbracht hatte, er spürte eine seltsame Aufregung, von der er nicht wusste, ob sie ihm angenehm war oder widerwärtig. Ein Pochen in seinem Kopf, das von den Schläfen in den Hinterkopf wanderte, ein Ziehen in seinem Nacken, eine Schwere in seinen Beinen, ein in seinem Magen leergenagter Raum (ein Mund in seiner Mitte, der sich selbst verschlingt). Er klickte auf den Tasten seines Handys nach Pres Nummer, klappte es wieder zu und schaltete den Computer ein. Er ging in die Küche und ließ die Kaffeemaschine laufen, siehst du, Pre, dachte er, so stehe ich auf und starte in den Tag , wenn du nicht da bist, es ist alles harmlos, liebe Pre, meine Liebste, alle Bahnen sind gelegt. Eine Stimme in seinem Kopf oder dicht neben ihm, die seine Handlungen kommentiert, solange die Wörter da sind, gibt es die andere Wirklichkeit: jemanden, der ihm zusieht; etwas, das ihm zusieht; das beruhigt und nervt ihn zugleich. Es beruhigt ihn oberflächlich und nervt ihn bis ins Mark; er kann keinesfalls damit aufhören; als würde er sonst ein dünnes Band durchschneiden, eine allerletzte Verbindung, nicht unbedingt nur zu Pre. Wichtig ist, dass dieses Etwas anders ist und dass es wirklich ist, ein Außen, sonst ist alles egal, jeder Inhalt ist egal.
Er nimmt seine Kaffeetasse und setzt sich vor den Laptop. Der Stapel von Fotos liegt, mit dem Gesicht nach unten, auf dem Tisch neben dem Computer, er spürt den Impuls, sie zu Boden zu fegen, er wartet auf Sätze, die die Stimme in seinem Kopf oder dicht neben ihm zum Schweigen bringen. In der Nacht hat er einen Satz geschrieben: Jeder Lichtstreifen bringt einen neuen Raum hervor. Mit einem Klick müsste dieser Raum sichtbar werden, doch er weiß nicht, wo er suchen soll; er dreht den Stapel von Fotos um: ihm scheint, dass nichts hier wirklich festgehalten ist, alles ist flüchtig, von Auflösung bedroht, die Mauern nicht weniger als die Gesichter, es müsste einen kaum sichtbaren Punkt geben, der auf seine Berührung wartet, dann hätte sein Blick eine Bedeutung. Er müsste die Fotos irgendwo auf dem Computer wiederfinden können, er hat verabsäumt, sich eine CD brennen zu lassen, das war doch früher, vor zehn Jahren oder so, möglich. Irgendein Bildvergleich könnte ihn dann endlos viele Kopien entdecken lassen, Beschreibungen, Namen, Erklärungen, es gibt doch nichts Verstecktes, Privates mehr, das ohne Beschreibung und Erklärung ist, dort drüben, im Netz, in der Wirklichkeit. Was so flüchtig ist wie die Räume auf diesen Fotos, wie diese Gesichter, dieser Stein, hat kaum Existenz, diese Frauen, Mädchen mag es gar nicht wirklich geben, es mag sie niemals wirklich gegeben haben. Er liest noch einmal, was er geschrieben hat, liest es sich (die Stimme im Raum, an jemanden oder etwas, der ihr zuhört, gerichtet) laut vor. Die beiden Mädchen scheinen ein merkwürdiges Haus zu bewohnen. Erst einmal kann es um dieses Haus gehen, von dem er noch beinahe nichts weiß.
In diesem Moment läutete das Telefon, er stürzte sofort hin, unbekannte Nummer, sagte das Display. Ja, sagt er, wie er sich vor zirka fünfundzwanzig Jahren beim privaten Telefonabheben angewöhnt hat (vorher hatte er sich immer brav mit seinem Namen gemeldet). Spreche ich mit Herrn Doktor Walter Steiner?, fragte eine vollkommen neutrale Stimme, und er erstarrte, das konnte nur ein Verständigungsanruf der Polizei oder eines Krankenhauses sein. Ja, das bin ich, sagte er mit einer ebenfalls völlig neutralen Stimme. Er spürte seinen Körper nicht, die Sekunden schlüpften durch ein Loch in der Zeit und dehnten sich in einem fremden Raum aus, diesen Raum wirst du bewohnen. Guten Tag, Herr Doktor Walter Steiner, sagte dann die Stimme – keinen Deut munterer geworden – weiter, ich habe Ihnen heute ein besonderes Angebot zu machen, reisen Sie gerne, Herr Doktor Steiner, wenn Sie gerne reisen, dann ist heute ein freudiger Tag für Sie, Ihr Los ist nämlich gezogen worden, und Sie haben bei der großen Traumreisenverlosung der Dreamvoyage for you Reiseunternehmens GmbH eine Reise an ein Ziel Ihrer Wahl gewonnen, und nicht nur das, Sie können Ihre Partnerin (Sind Sie verheiratet, Herr Doktor Walter Steiner?) oder, wenn Sie nicht verheiratet sind, einen Freund oder Begleiter Ihrer Wahl zu einem Sonderpreis – Er legte auf und presste den Hörer noch eine Zeit lang ganz fest auf die Gabel oder das, was man in seiner Jugend noch Gabel genannt hatte, wie um die Stimme, die eben aus dem Hörer
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