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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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Körper lacht und schaut sie traurig an, sie verschließt freundlich ihr Gesicht vor seinem traurigen Blick, sie verschließt ihre Ohren vor seinem Lachen und den Witzen), sie tragen unter ihren offenen Winterjacken rote T-Shirts mit der Aufschrift ÖGB und in den Händen eingerollte Fahnen. Eine alte Frau starrt mit zuckenden Mundwinkeln aus dem Fenster, die Finger um eine Kronenzeitung geballt. Die Männer steigen aus, und die alte Frau scheint auszuatmen, sie schaut sich um, sieht dich, starrt wieder aus dem Fenster. Du lachst laut auf, die alte Frau flüchtet aus dem Waggon. Ich bin nicht mehr unsichtbar, sagst du dir, ich stinke. Ich habe den bösen Blick, und ich stinke. Ich bin nicht mehr unsichtbar.
    Es ist keine Übung mehr, sie folgt keiner Regel, steigt ohne jede Überlegung von der S- in die U-Bahn, es beginnt zu tröpfeln, gerade als sie ausgestiegen, die Rolltreppe hochgefahren und ins Freie gekommen ist. Sie erkennt den Platz wieder, sie kann es nicht verhindern. Sie läuft eine Zeitlang herum, kaum jemand ist auf den Straßen. Die Kleider kleben kalt an ihrer Haut, sie weiß im Wachen nicht mehr, was Wachsein ist. In ihrer Hosentasche hat sie noch den Wohnungsschlüssel, elende Halbherzigkeiten, eine kleine Aufregung erfasst sie, die den Aufregungen ähnlich sein muss (sagen wir), die ihre Schwester manchmal antreiben. Das also ist das Haus, in dem sie gewohnt hat. Sie kann noch einmal duschen, sie kann sich noch einmal umziehen, sie kann sozusagen noch einmal neu beginnen, noch einmal aufbrechen, noch einmal fortgehen, niemand wird es merken. Sie schaut auf den leeren Korridor, die Zimmertüren sind verschlossen, die Tür zu ihrem Zimmer. Sie drückt die Türschnalle, schaltet das Licht an: das Bett mit der zerwühlten orangeroten Decke, der Stuhl, über dem noch eine Jacke hängt, große Kissen, ein paar Wäschestücke, ein paar CD s am Boden, ein paar Bücher. Das Bild an der Wand, ein nichtssagendes Foto. Du kennst mich!, sagen die Dinge, dann sagen sie wieder: Ich bin nichts. Sie geht ins Badezimmer, hält ihren Mund unter den Wasserhahn, wünscht sich eine Zigarette (roch es nicht in ihrem Zimmer, dem, was ihr Zimmer war, immer noch nach Zigarettenrauch), zieht sich aus, ein Haufen Wäsche, den sie in die Waschmaschine stopfen kann, ein Körper, den sie unter den Duschstrahl hält, das Wasser verschwindet im Ausguss, eine Schliere aus Seifenschaum bildet sich auf dem Boden, sie hat keine Zigarette, eine Zigarette wäre keine Zigarette, mach schnell, mach bloß schnell. Dabei ist doch eigentlich alles noch offen. Sie könnte doch einfach hierbleiben und sich hinlegen, sie ist so müde.
    Die Adresse scheint ihr absurd, und die Stimme am Telefon, diese sanfte, ruhige Stimme hat getäuscht. Es ist Dienstag, der sehr schweigsame Mann, der offenbar nichts Neues von Mona weiß, aber immerhin ihren Namen kennt (und du nie den seinen), sieht völlig anders aus, als sie ihn sich vorgestellt hätte (wie hätte sie ihn sich vorgestellt: als ein fast Nichts, einen schlanken schwarz oder weiß gekleideten Mann aus einem anderen Material als andere Männer es sind, mit einem eindringlichen Blick, den man aber sogleich wieder vergessen wird, ungefähr so hätte sie ihn sich vorgestellt). Dieser Mann hier erschrickt, als er sie sieht, es scheint dir zuerst beinah so, als würde dieser Mann immer erschrecken, wenn er einen Menschen sieht; erst später fällt dir das Offensichtliche ein, er hat dich mit deiner Schwester verwechselt, für ihn siehst du deiner Schwester ähnlicher, als du es glauben kannst, für andere siehst du deiner Schwester ähnlicher, als du es glauben kannst, und dieser Mann, von dem du trotz allem vermuten möchtest, er hätte einen anderen Blick als andere Leute, als andere Männer, hat nur denselben Blick wie die anderen Leute, die anderen Männer; erst noch später geht dir auf, dass er doch noch etwas anderes sieht, etwas eine Spur anderes, und es mag sein, dass er euch gerade deshalb verwechselt. Obwohl ihr erst gestern miteinander telefoniert habt und er wissen müsste, du bist nur die Schwester und hast nur eine Frage, eine vielleicht verzweifelte Frage, aber so viel weißt du, Verzweiflung darf man nicht zeigen, also hast du nur eine einfache Frage.
    Ja, ich kenne den Namen, hat seine ganz ruhige Stimme am Telefon gesagt, es war die erste Nummer, die du wähltest, und es war ganz selbstverständlich gewesen, diese Nummer als erste zu wählen, so als wäre die Welt voller Zeichen.

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