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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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gebraucht hat, ihn zu entdecken; den faden Geruch zu identifizieren, der aus seinem Innersten kommt. Warum er sie so lang täuschen hat können mit seinen falschen Oberflächen. Er fragt sich, weshalb sie ihm anscheinend die Wohnung überlassen hat und ihm zugleich nicht sagt, wo sie ist. All das sind kleine Schmerzzentren im Bild. Er fragt sich, ob er sich nicht einfach hinlegen, aufgeben, die letzte Wendung der Geschichte vergessen und verfaulen soll, seine Beine, sein Kopf, sein Nacken (die Spiegelung seiner Beine, seines Kopfes, seines Nackens in Pres Stimme) raten ihm dazu, sich hinzulegen, aufzulegen, zu verfaulen; am besten alles zu vergessen.
    Bist du da, Walter, sagte die Stimme plötzlich hart und ohne jeden Akzent, in einem ihm dennoch bekannten oder lang erwarteten Tonfall, dann, nach ein oder zwei Sekunden Pause: es wundert mich gar nicht, dass du nicht abhebst. Ein Klick, ein Surren, eine Männerstimme sagt: Ende des Anrufs, und für einen Moment scheint dir, diese Stimme und die Stimme, mit der sich Pre von dir abschiedslos verabschiedet hat, existieren in der gleichen Welt, einer Welt, zu der du von deinem Platz aus keinen Zugang hast.
    Er schaute zum Schreibtisch hin, an dem Pre abends immer gesessen hatte, und glitt bewegungslos die Jahrzehnte zurück und zugleich nach vor, hin zu seinem Tod, an einem Tag, an den er sich schon heut erinnert. Kaum war er von ihrer Gegenwart und gleich auch von ihrer Stimme befreit, wurde Pre ihm deutlich wie seit langer Zeit nicht; so nah, dass er, wie in einer tiefen Umarmung, in ihrem Blick unterschlüpfen möchte, in ihrem Blick, in keinem anderen, kein anderer Blick kann ihren Blick ersetzen, zugleich sah er sich von ihr wegtreiben (als wäre es nicht sie, die gegangen ist). Hat er nicht alles dazu getan, es soweit kommen zu lassen; indem er begonnen hat, so zu sein, wie er ist?
    Immer noch wartete er auf die Stimme, die kommentieren sollte, was er tat oder eher nicht tat (wie er dreinschaute, auf seine Hände schaute, die sinnlos auf der Tischplatte lagen), es Pre hinterbringen und an seiner Stelle mit Pre verhandeln; eine Stimme als Verbindung zwischen seiner Welt und ihrer, die ab jetzt die wirkliche Welt war, zu der er selbst keinen Zugang mehr hatte. Seine Hände, ihr sinnloses Daliegen, das wäre für diese Stimme fast ein Argument. Doch es gab zwei Wohnungen in dieser Wohnung, die gegenwärtige und die soeben Vergangenheit gewordene, die übereinanderlagen und sich nicht mehr berührten; er ging herum, von einem Raum in den anderen, und blieb immer in der einen Wohnung, in der nichts als das Geräusch seiner Schritte, jetzt, in diesem Moment, zu hören war; im Badezimmer konnte er duschen oder sich die Zähne putzen, er blieb vor dem Badezimmerspiegel stehen, schaute auf sein trotz der dunklen Augenringe täuschend hübsches Cary-Grant-Gesicht im warmen gedämpften Scheinwerferlicht, auf die Ablage neben der Badewanne, wie war es zu erklären, dass Pre nicht nur eine ganze Batterie von Cremes, Salben, Stiften, Döschen zurückgelassen hatte, sondern auch ihre Zahnbürste, einen Haufen Wäsche, der in einem Korb neben der Waschmaschine lag, einen unbestimmten, aber überdeutlichen Geruch, als wäre sie nicht vor einem Tag, sondern erst vor wenigen Stunden fortgegangen. Hat sie überhaupt irgendetwas von ihren Sachen mitgenommen? Wie war es zu erklären, dass dieser Geruch, diese Cremes, Salben und Seifen nicht das Geringste von ihr verrieten?
    In seinen Fingern hält er die Zahnbürste, weiß mit schwungvollen roten und grünen Streifen und der Aufschrift Dr. Best . Er schmeckt die Zahnpasta in seinem Mund; wenn er mit der Bürste zu nah an seinen Gaumen kommt, wird er nur knapp vermeiden, dass er sich übergeben muss. Das Bild verschließt sich.
    Im Grunde fühlte er gar nichts, sein Leben gehörte nicht mehr zu seinem Leben, eine Stimme sagt ihm: dein Leben gehört nicht mehr zu deinem Leben. Die Schmerzpunkte befinden sich im Bild, nicht in ihm selbst, und sie haben längst die Farbe und die Bedeutung gewechselt. So tritt die Gegenwart ins Vergangene.
    Sie sitzt im Autobus, in der Straßenbahn, in der U-Bahn, steigt mechanisch um, sieht die sogenannten Fahrgäste, in Männer und Frauen, Inländer und Ausländer, Alte und Junge, Arme und Reiche aufgeteilt, eine blödsinnige und notwendige Aufteilung. Mit keinem dieser Menschen verbindet sie etwas. Sie laufen aneinander vorbei, ohne sich anzusehen, ohne sie anzusehen. Sie denkt, niemand kann mir helfen,

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