Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
japanische oder zumindest fernöstliche Form von Tanz auch deshalb, weil sie ihn (in den Siebziger und Achtziger Jahren hat er gern Jazz gehört) an die Art und Weise erinnert, in der Thelonious Monk Klavier spielt: eine abwegige und vollendete Form von Konzentration, eine Schwere, aus der Leichtigkeit entsteht. Eine virtuose Unbeholfenheit, ein totales krampfartiges Abschneiden der Außenwelt, das einen wundersamen Reichtum hervorbringt. Von seiner Jazzleidenschaft ist nichts zurückgeblieben als eine ferne Liebe zu Thelonious Monk, dessen Platten er sich allerdings auch nie mehr anhört. Er klickt den Teletext an, um zu wissen, was er sieht, 2 Pieces , sagt der Text nur, auf Englisch oder Französisch, Tanz steht ohne weitere Erklärung, ohne Namen, Zeit oder Ort darunter.
Ein paar Sekunden lang ist das Bild schwarz, dann beginnt der zweite Film. Ein Wald ist zu sehen, junge Bäume mit schmalen Stämmen und Knospen wie Kniegelenke, die, sowie eine langsame Kamerabewegung einsetzt, dichter und dichter stehen. Ein regelmäßiges Gitter von Stämmen, das zugleich eine Idee von Freiheit oder eine unbestimmte Lebendigkeit ausstrahlt, als wäre es ein Körper oder berge das Versprechen eines Körpers (eines Wissens); keine Natur, sondern eine Architektur, die ihre Bewegungsform, ihre Form von Lebendigkeit gefunden hat (eine Buchstabenschrift, in die du hineingleiten kannst wie in einen Traum). Der Wind rauscht ganz leise. Ohne Schnitte und Beschleunigung bewegt sich die Kamera durch das Szenenbild, sie scheint zu atmen oder dem Atem einer Figur zu folgen. Er stellt sich die Figur vor, eine weißgekleidete Frau, die über den Waldboden schleicht, eine Frau in wehenden weißen Kleidern, fast ein Kind, vielleicht die Frau aus dem ersten Film, mit offenem Haar, fast ein Kind geworden, kaum noch oder kaum schon lebendig, zwischen den Stämmen, als würde sie selbst sich nicht von der Stelle rühren und nur der Raum in Bewegung sein; man kann das nicht mehr unterscheiden. Er stellt sie sich vor und sieht sie sogleich, vielleicht die Frau aus dem ersten Film, vielleicht auch nicht. Die Belichtung schwankt; es ist unklar, ob sie vor oder hinter den Stämmen auftaucht. Ab und zu ist ihr Gesicht zu sehen, wie eine Wunde (jedes Gesicht ist eine Wunde im Bild). Er sitzt auf dem Sofa, die Hände neben sich auf dem blaubespannten Stoff, die Füße parallel nebeneinander auf dem weichen Teppich, eine Haltung, die weder bequem noch unbequem ist, die nichts aussagt, so wie sein Blick nichts aussagt. Die Stämme folgen aufeinander, gleichförmig und endlos, mit Knospen wie Gelenke, der Wind rauscht ganz leise, es könnte auch das Blut in seinen Ohren sein, es könnte der Ton des Verstummens sein. Dies ist eine Landschaft, die es womöglich auch in der Wirklichkeit gibt und die doch, doppelt und mehrfach belichtet, freier und besser ist als die Wirklichkeit.
Die Frau, die den Film bewohnt, wird durchsichtig und löst sich im Wald auf. Die Kamera nimmt noch etwas wahr, eine Art von Geruch, eine Art von Schatten (ein heller Schatten), der durch die Stämme hindurchzugleiten vermag, dann nichts mehr. Die schlanken Stämme, das Laub, das im Wind zittert, kleine Lichtschneisen. Sein Herz klopft. Wie soll er diese Leere aushalten.
Vielleicht war er einen Moment lang unachtsam oder kurz eingenickt, der Kamerablick ist nun auf einen Fleck zwischen den Bäumen gerichtet; das trockene, das feuchte Laub auf dem Boden, das Licht im trockenen, im feuchten Laub auf dem Boden, in dem sich langsam etwas zu regen scheint, dann aufzutauchen, etwas Weißes, Nacktes. Er erkennt die erdverschmierten bleichen Knie, die Hüften einer Frau, er erkennt einen Bauch, Oberarme, eine Brust mit vor Kälte zusammengeschrumpelter Warze, nacheinander tauchen die Körperteile aus der Erde auf und verschwinden wieder. Er sieht diese Frau, in den kurzen Momenten ihres Auftauchens, seltsam deutlich, wie er noch nie etwas (jemanden) gesehen hat, und zugleich kann er immer noch nicht genau sagen, ob es dieselbe Frau ist wie im ersten Film, obwohl es nichts gibt, was er so dringend wissen möchte wie das. Er möchte ein Gesicht sehen, die Wunde eines Gesichts, denkt, dieses Gesicht würde er, im Unterschied zu den anderen Gesichtern, die ihm in der Wirklichkeit oder wo auch immer sonst begegnen, nicht vergessen. Er stellt sich die Insekten vor, die Feuchtigkeit, die Kälte, das Ausgeliefertsein, die Scham; er stellt sich die Leichtigkeit vor, die Selbstverständlichkeit, das
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