Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
da gewesen ist).
Er ist etwas unschlüssig, was er nun tun soll; schlafen würde er nicht können, gegessen hat er schon oder zumindest hat er sein Essen stehengelassen, was ihm für Essen gilt, getrunken hat er eigentlich auch schon genug (hat er nicht in diesem Wirtshaus oder vorher oder nachher Bier nach Bier in sich hineingeschüttet? Er ist sich nicht sicher). Arbeiten, denkt er. Etwas muss ihn ersetzen (nicht Pre, ihn). Er schaltet seinen Computer ein, die ganze Welt steht ihm in diesem Kästchen zur Verfügung, aber was geht ihn die ganze Welt an. Er denkt, er könnte einige Sätze schreiben, aber gleich steht er wieder auf, läuft in die Küche; in der Abstellkammer gäbe es ein paar dutzend Flaschen Wein, im Kühlschrank Wasser und Bier, in der Brotdose Brot, vor dem Fenster hängt ein tristes Stück Nacht. Im Wohnzimmer schaltet er den Fernseher ein, legt sich auf den Boden, schon beim dritten Sender, den er anklickt, bleibt er hängen.
Natürlich liegt das zuerst daran, dass die Frau völlig nackt ist; aber gleich geht es auch noch um etwas ganz anderes; etwas unterhalb allen Verlangens. Sehr langsam, minutenlang, einen Finger im Mund, sinkt die Tänzerin zu Boden, zu hämmernder Musik, in einem schattenlosen leeren Raum. Ihr Haar ist zu einem Zopf zusammengebunden, ihr Gesicht zeigt keine Mimik, die Augen sind offen, die Muskeln gespannt. Sie ist nackt nicht für ihn, nicht mit einem Schielen auf ihn oder einen anderen Wichser, der ihr zuschaut, sondern für sich, für sie selbst oder ihren Körper oder für den Tanz selbst, nichts als den Tanz. Sie wirkt schutzlos und unangreifbar; für einen Moment erinnert er sich daran, wie er als Jugendlicher Frauenkörper wahrgenommen hat, wie ihm sein eigener Körper erschienen ist, fremder und zugleich vertrauter als zuvor, nicht mehr selbstverständlich und zugleich unabweisbarer denn je. Vorhin im Wirtshaus, in diesem Moment von Abwesenheit, wenn es denn ein Moment von Abwesenheit war; was hast du da begriffen, siehst und begreifst du es wieder: etwas Zartes, ein jede Scham und jeden Ekel (so verstehst du es jetzt) durchstreichendes Wissen. Der Arm der Frau scheint sich aus dem Schultergelenk zu lösen, ihr Kopf wird von einer unbekannten Kraft langsam nach hinten gezogen, ein Bein spreizt sich aus ihrer Hüfte, eine Art von Buchstabenschrift scheint dir aus diesen Bewegungen herauszuwachsen, in die du wie in einen Traum hineingleiten kannst. Der Körper, der sich in Form und in Wissen verwandelt, kann gleichzeitig der deine und der dieser Frau sein, nicht unbedingt ein Männerkörper, nicht unbedingt ein Frauenkörper, nicht einmal unbedingt ein Menschenkörper: ein Körper, der Wissen, ein Wissen, das Körper ist. Bis die Zeit aufhört.
Er ist sekundenlang eingeschlafen, so scheint ihm, dann weiß er sich wieder vor dem Fernseher sitzen, in einer frischen Unterhose, die sein erigiertes Glied spannt, und auf die Tänzerin in dem weißen schattenlosen Raum starren, die es, auf einem Boden liegend, der beinah aus Licht ist, in einer unmenschlich erscheinenden Anstrengung geschafft hat, ihre Finger von ihrem Gesicht zu entfernen (eine Auflösung der Schwerkraft), und einem Ruhezustand nah gekommen ist, so wie auch die Musik beinah in Stille aufgeht. Ihr Gesicht zeigt keine Spur einer Anstrengung. Sie atmet. Sie hat Augen. Sie kann jederzeit aus diesem Raum in einen anderen Raum umsteigen. Ein plötzlicher lauter Ton schreckt ihren Körper wieder aus seinem Ruhezustand; wie in einem Würgen gerät er noch einmal ins Tanzen, dich erfasst eine merkwürdige Aufregung, von der du erst einige Minuten später, während der Fortsetzung oder danach, merken wirst, dass sie nicht allein mit dem Tanz zu tun hat, sondern auch mit deiner Ahnung oder deinem heimlichen Entschluss, hier einen Hinweis gefunden zu haben.
Er steht vom Fußboden auf, weil es ihm plötzlich seltsam ungehörig erscheint, in seinem Alter auf dem Fußboden herumzuliegen, und setzt sich, mit wieder beruhigtem Geschlecht, aufs Sofa. Tanz hat ihn nie besonders interessiert: diese bedeutungsschwangeren Bewegungen, diese lächerlichen Schwäne und Nussknacker, diese Wichtigtuerei der schönen oder ausgemergelten Körper, das Tanztheatergehüpfe, das, kaum neu erfunden, sofort zur Konvention geworden ist, das Ornamentwerden von irgendwelchen gelenkigen Menschen; vielleicht, denkt er, in seinem altgewohnten kulturellen Assoziationsraum, trifft ihn diese ihm bisher unbekannte, sicher in irgendeiner Art
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