Regenbogen-Welt (German Edition)
Sie war nicht so stark wie ihre eigentliche. Aber sie
war da. Schlummerte tief in ihr. Unter irgendetwas versteckt. Nur was?
Sahas Freunde waren enttäuscht, als sie hörten, dass Iman nicht
mit ihnen aufbrechen wollte. Sie konnten mit der Vorstellung, Imans Geist und
Seele würden sie begleiten, nichts anfangen. Saha konnte es ihnen nicht
verübeln. Sie wusste auch nicht, woher sie die Erkenntnis nahm, dass Iman
allgegenwärtig sein würde. Aber sie wusste es. Und das erstaunte sie noch mehr.
Da war mit einem Mal mehr als ihre Doppelnatur in ihr. Etwas
Realeres, Greifbareres. Etwas, das sie gleichermaßen faszinierte und
beunruhigte.
Noch wusste sie es nicht einzuordnen.
Noch machte es ihr Angst.
Noch wusste sie nicht damit umzugehen.
Noch.
„Träumst du schon wieder am helllichten Tage?”, riss Barbs
melodische Stimme Saha aus ihren Gedanken.
„Ich habe darüber nachgedacht, was noch alles zu tun ist“, log
Saha seelenruhig und wunderte sich nicht einmal darüber. Wie hätte sie auch
erklären sollen, was in ihr vorging? Wie hätte sie erklären sollen, dass sie
das Gefühl hatte, nicht mehr allein in ihrem Chitinpanzer zu stecken? Niemand
hätte das verstanden. Niemand.
Nicht einmal Barb. Und die verstand beinahe alles.
„Und was müssen wir noch tun?”, fragte Barb herausfordernd. „Du
redest doch seit Jahren von nichts Anderem. Was gibt es da noch groß zu
bedenken?”
Saha nickte zustimmend. „Du hast Recht. Eigentlich müssen wir nur
losgehen.”
„Das denke ich auch.” Hazee knirschte vorlaut mit den Zähnen.
„Was hält uns noch hier?”
„Nichts!”, schnarrte Jabani und flatterte, um ihre
Aufbruchstimmung zu zeigen, mit den Fledermausflügeln.
Die Erste Welt verabschiedete sie mit rauschenden Bäumen und
wiegenden Gräsern. Zeigte sich somit von ihrer besten Seite. Ihr sonniger Atem
floss bei ihrem Aufbruch so sanft an der kleinen Gruppe vorbei, als streichele
er sie. Trotzdem verspürte Saha kein Bedauern. Hier war sie zwar nicht
unglücklich gewesen, aber auch nicht glücklich. Allenfalls zufrieden.
Saha blickte sich um. Ihre Freunde schwatzten aufgeregt
durcheinander. Das Reisefieber hatte sie gepackt. Selbst Kasur gab ihre
Schweigsamkeit auf und redete eifrig auf Ishtar ein. Spannung lag in der Luft.
Stimulierende Spannung. Sie alle wussten, dass sie den Weg ins Paradies, in die
Fünfte Ebene der Regenbogen-Welt, einschlagen wollten. Auch wenn sie ahnten,
dass unheilvolle Abenteuer und unvorstellbare Strapazen auf sie warteten. Es
kümmerte sie nicht. Vor allem Saha nicht. Sie wusste, dass die Gemeinschaft sie
stark machte, und das verlieh ihr zusätzliches Selbstvertrauen. Ihr Blick
streifte liebevoll die Königs-Libelle neben sich. Ishtar war nicht umsonst Gelehrter.
Er wusste alles über die Regenbogen-Welt, was bekannt war. Die Mythen um jede
einzelne Ebene, die sie passieren mussten, waren recht verschwommen und
skurril. Und jeder von ihnen wusste, dass er einer ungewissen Zukunft
entgegenblickte.
Der Zeitpunkt des Aufbruchs war unweigerlich gekommen.
Sie durchwanderten Berge und Täler und die weite Ebene der
Prärie. Sahen tagelang nur grüne Säulenkakteen. Die Gegend nahm allmählich ein
anderes Gesicht an. Sie gingen bei Wind und Wetter über Stock und Stein. Oftmals
bis an den Rand der Erschöpfung. Bis sie glaubten, dass sie nicht mehr
weitergehen konnten. Aber immer wieder rappelten sie sich auf. Sprachen sich
gegenseitig Mut zu. Wurden stark durch die Gemeinschaft. Wie es Saha
vorhergesehen hatte. Doch dann erreichten sie den Punkt, an dem es tatsächlich
nicht mehr weiterging. Sie hatten die höchste Stelle der Ersten Welt erreicht
und konnten einen ersten neugierigen Blick auf die über ihnen werfen. Über
ihrer grünen Welt schimmerte es bereits azurfarben.
Die Zweite – blaue – Welt wartete darauf, erforscht zu werden.
Nur, wie sollten sie hinaufgelangen?
Saha blickte Ishtar hilfesuchend an. Am liebsten wäre sie in
rasantem Sturzflug bis an das Ende des grünen Bogens hinaufgeflogen. Doch wo
war der Durchgang?
Ishtar räusperte sich. „Wir müssen die Himmelsranke finden”,
sagte er mit belegter Stimme.
„Was für‘n Ding?”, wollte Hazee respektlos wissen.
„Die Himmelsranke”, wiederholte Ishtar mit der ihm eigenen
Geduld.
„Nie gehört!” Hazee war keinen Deut beeindruckt.
„Hast du nie von den Alten gehört, die in der Lage waren, durch
alle fünf Welten zu reisen? Sie stiegen zuerst die heilige Himmelsranke
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