Regenbogen-Welt (German Edition)
Fühler fuhren zart über ihre
malvenfarbenen Wangen. Es war ein Begrüßungsritual, das sich täglich zwischen
ihnen wiederholte. So regelmäßig, wie Tag und Nacht wechselten. Ebenso
regelmäßig ertönte Sahas spitzer Schrei, wenn er sich dicht neben sie setzte.
Shirkan beobachtete die beiden und schüttelte lachend den Kopf.
„Ihr seid mir zwei Verrückte!”, rief er gutgelaunt. Das war die
Riesen-Ameise eigentlich immer. Ihn zeichnete nicht nur Fleiß aus, sondern auch
sein ausgeprägter Humor, der keine Grenzen kannte. Das Leben des Insektenvolkes
war einfach und beschaulich. Da war es für Shirkan und seine Leute leicht,
gutgelaunt zu sein.
Saha warf ihm einen koketten Blick zu. „Lieber verrückt als
langweilig, Shirky”, sagte sie mit einem schmeichelnden Unterton, den sie nicht
ohne Grund anschlug. Sie hatte wieder einmal den Entschluss gefasst, die
Freunde zu überreden, mit ihr bis in die fünfte Welt zu reisen. Denn wenn Saha
den Geschichten ihrer Großmutter Glauben schenken konnte, musste dort geradezu
das Paradies sein. Und wer den Weg hinauf in die fünfte Welt schaffte, hatte
gute Chancen für das Leben auf der Erde unter seinesgleichen auserwählt zu
werden.
Das war allemal verlockender als das Leben in der ersten Welt.
Der Mond wanderte in samtenen Mokassins über den Nachthimmel. Er
warf langgezogene Strahlen auf die Wildblumenwiese, die sich unter den Bäumen
erstreckte. Uhura, die Eule, saß hoch über ihnen und ließ den Blick ihrer
großen, runden Augen über das Land schweifen. Sie war alt. Uralt. War in der
Zeit des Großen Schlafes geboren, in der eine schwarze Wolke die Erste Welt in
Finsternis gehüllt hatte. Uhuras Vater, ein weiser Seher, hatte die Weiße Wolke
zu Hilfe gerufen und deren Kampf mit ihrer schwarzen Schwester beobachtet. Er
hatte die Sonne und den Mond zurückgeholt, denn die Erste Welt war in graues
Halbdunkel gehüllt gewesen, nachdem alles Leben auf der Erde untergegangen war.
Die Sonne, herrlich golden leuchtend, hatte sie seither ebenso wenig verlassen
wie ihr Bruder, der Mond.
Saha konnte es sich nicht vorstellen, ohne das wärmende Licht der
Sonne zu leben. Ich wäre gestorben, wenn ich damals schon gelebt hätte, dachte
sie und warf Uhura einen zaghaften Blick zu. Die Eule war die Einzige, vor der
Saha so etwas wie Respekt zeigte.
„Heute war ein besonders anstrengender Tag.” Shirkan seufzte,
lehnte sich zurück und verschränkte die Hände vor dem Bauch. „Wir haben
geschuftet wie die Wahnsinnigen.”
Das war nicht der Gesprächsbeginn, den sich Saha erhofft hatte.
Sie war unzufrieden mit ihrem Leben und wollte es mehr denn je ändern.
Treuherzig blickte sie Shirkan an. „Das ist doch immer mein Reden, Shirky.” Sie
benutzte bewusst das Kosewort, das sie ihm schon als Kind gegeben hatte.
Shirkans Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. Er wusste genau, dass
sie etwas von ihm wollte. „Du hast dein ganzes Leben hart gearbeitet, denkst du
nicht auch, dass es allmählich Zeit wird, dich zur Ruhe zu setzen? Vielleicht
sogar in einer besseren Welt.”
In Shirkans Augen blitzte es schalkhaft auf. Er wusste, welchen
Verlauf das Gespräch nehmen würde. Meist blockte er es mit einem Scherz ab,
aber in dieser wunderschönen Nacht verspürte er Lust, das Thema zu vertiefen.
Doch so einfach wollte er es Saha nicht machen.
„Kind, fängst du schon wieder davon an?”, fragte er liebevoll.
Saha rümpfte die Nase und murrte leise vor sich hin. Dann bewegte
sie ihre langen Arme, als wolle sie diese bis hinauf in den Nachthimmel
strecken. Die graziöse Bewegung strahlte zarte, ätherische Schönheit aus.
„Das muss ich ja wohl”, erwiderte sie lässig. Shirkan fragte
sich, woher sie die Würde nahm, die in ihrer Haltung lag. Immerhin war sie noch
eine sehr junge Gottesanbeterin. „Mir hört ja nie jemand zu”, fuhr sie unbeirrt
fort.
Shirkan lachte schallend. „Das stimmt wohl nicht so ganz. Wir
haben dir sogar sehr gut zugehört. Wir ...”
„Ich weiß, ich weiß”, unterbrach ihn Saha ungeduldig. „Ihr glaubt
nicht an die Legende der Fünften Welt.”
Uhura hüpfte von ihrem Ast zu ihnen herunter. „Es stimmt aber.”
Ihre dunkle Stimme war noch nicht verklungen, da rief Saha
aufgeregt. „Hört ihr, was Uhura gesagt hat?”
Ishtar lächelte über ihre kindliche Aufregung. „Wir sind ja nicht
taub, Saha!”
Uhura neigte den Kopf und blickte Ishtar wissend an. „Aber du
willst dich immer noch der Möglichkeit verschließen, bis
Weitere Kostenlose Bücher