Regenbogen-Welt (German Edition)
gut”, rief sie.
„Wir sehen uns morgen. Zum Klatsch im Silberbaum.” Sie machte eine Kehrtwendung
um hundertachtzig Grad und raste den nächsten Baumstamm hoch. So schnell, dass
Funken stoben.
Saha benötigte eine knappe halbe Stunde, bis sie Shirkans Dorf
erreichte. Sie war aufgeregt. Konnte sie ihn umstimmen? Ihn doch noch
überreden, sie zu begleiten? Was ihr zu denken gab, und was dagegen sprach, war
das enge, soziale Zusammenleben mit seinen Artgenossen. Saha selbst war zwar
kein Familienmensch, aber sie bewunderte Shirkans Einstellung zu seiner
Dorfgemeinschaft. Man sagte dem Ameisenvolk nach, dass seine Gesellschaft eine
unleugbare Ähnlichkeit mit der untergegangenen Menschenrasse auf der Erde
hatte. Sie lebten ebenfalls in festen, gesellschaftlichen Verbänden. Für Saha
wäre das unvorstellbar gewesen. Sie war als Einzelkind aufgewachsen und war
seither auch eine Einzelkämpferin. Manchmal spürte sie direkt Abneigung gegen
zu viel Nähe und musste sich zwingen, sich nicht tagelang zu verkriechen. Sie
liebte es, mutterseelenallein auf einem dünnen Ast zu sitzen und sich mit
geschlossenen Augen der Sonne hinzugeben. In diesen Momenten gehörte sie sich
ganz allein. Und das war ihr tausendmal lieber als traute Zweisamkeit.
Sie erreichte die Ameisenstraße, die zu dem Dorf führte, und
hielt nach Shirkan Ausschau. Von ihm war weit und breit nichts zu sehen. Saha
seufzte und setzte sich auf einem Busch nieder. Sie ließ die Mittagssonne auf
ihren schilfgrünen Körper scheinen und fühlte sich wohl wie noch nie.
Sie würde die Erste Welt verlassen!
Allein die Vorstellung machte sie glücklich. Jetzt musste sie nur
noch Shirkan überzeugen, sie zu begleiten. Bei Ishtar war sie sich sicher, dass
er sie niemals allein gehen ließ. Ebenfalls bei Barb. Aber Shirkan ... Saha
seufzte erneut. Dieses Mal abgrundtief. Ihr suchender Blick wanderte wieder zu
den Ameisen, die in langen, schnurgeraden Wegen über den Boden liefen. Sahas
Wissen über diese fleißigen Tiere stammte von Shirkan selbst. Sie wusste, dass
Ameisen eine bemerkenswerte Langlebigkeit besaßen.
Bis in das hohe Alter nahmen sie nicht nur an Körpergröße, sondern
auch an Geist zu. Sahas Großmutter hatte die Ameise immer Vater des Fleißes
genannt. Und wenn Saha jetzt die emsig Dahineilenden sah, dachte sie, dass die
Bezeichnung durchaus zutreffend war. Sie wusste, dass Ameisen große Energie bei
der Nahrungssuche entwickelten. Zu ihrer Natur gehörte es, im Sommer für den
Lebensunterhalt im Winter zu sorgen. Shirkan und sein Volk vermochten Lasten zu
tragen, die schwerer als ihr eigenes Körpergewicht waren.
Was Saha besonders gefiel, war das Ameisendorf unter der Erde. In
ihm befanden sich Wohnungen, Galerien, Gänge und Vorratskammern. Als Kind hatte
Shirkan sie oft mit hinunter genommen. Dort machte Saha auch zum ersten Mal
Bekanntschaft mit den verschiedenen Berufen der Ameisen: Da waren Zimmerleute –
die tiefe Gänge in abgestorbene Bäume gruben, Legionäre – die berüchtigten
Treiber – oder Wanderameisen, Melker – die Blattläuse ihres zuckersüßen
Honigtaus beraubten und Diebe und Bettler – die in den Nestern anderer Arten
lebten und sich an deren Vorräten gütlich hielten. Furcht hatte Saha nur vor
den Sklavenräubern, die anderen Arten die Puppen aus den Nestern stahlen und
fortschleppten. Es war schon eine beeindruckende kleine Welt, die Shirkan sein
Eigen nannte.
Sie wäre beinahe eingeschlafen. Genaugenommen war sie es und
schrak zusammen, als Shirkans Stimme hinter ihr erklang. „Saha, wie schön!”
Saha öffnete mit einem Ruck die Augen. Sie streckte graziös und
ein wenig hochmütig ihre langen Gliedmaßen. Dann bedachte sie Shirkan mit dem
treuesten Blick, den sie in ihrem Repertoire hatte.
Die Riesen-Ameise lachte. „Was willst du?”, fragte er gutgelaunt.
„Wenn du mich mit diesem Augenaufschlag umgarnst, willst du etwas von mir.
Also, was ist es?”
„Das weißt du, Shirky”, antwortete Saha sanft.
Shirkans Miene verfinsterte sich schlagartig. „Fängst du schon
wieder davon an?” Er schüttelte den Kopf und stieß einen betrübten Laut aus.
„Das muss ich doch!”, begehrte Saha auf. „Wenn du dich partout
nicht entscheiden kannst, uns zu begleiten. Immerhin brechen wir in den
nächsten Tagen auf.” Saha sah das Erschrecken in Shirkans Augen und fühlte
körperlichen Schmerz. Seit dem Tod ihrer Eltern war die Riesen-Ameise wie ein
Vater für sie geworden. „Du selbst hast immer
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