Reich der Schatten
seiner Frau auf die Beine und sah ihr in die Augen. Er hob noch einmal besorgt ihr Haar hoch.
»Ich wurde nicht gebissen«, versicherte sie ihm leise.
»Aber du bist schon einmal gebissen worden«, erinnerte er sie. »Und hast es mir nicht gesagt.«
»Weil es mir nichts ausgemacht hätte, in deine Welt zu wechseln. Ich habe Angst vor dem Leben, vor den Jahren, die vorübergehen«, erklärte sie.
Lucian zögerte, dann küsste er sie auf die Stirn. Die Welt war ein seltsamer Ort, doch Leben und Tod waren noch seltsamer. Er war inzwischen an einen Punkt gekommen, an dem er genau wusste, welche Rolle er spielen wollte.
Und dennoch …
Er wusste nicht, ob ihm am Ende die ewige Verdammnis drohte. Und ein solches Schicksal wollte er niemals für jemanden riskieren, den er mit allen Fasern seines Seins liebte. Jade war inzwischen mehr als nur seine Geliebte und seine Ehefrau, sie war seine Seele.
»Wir müssen ins Château DeVant«, sagte er.
»Warte, ich habe einige Sachen für Jacques ausgedruckt«, meinte sie.
Lucian wartete, während sie die Unterlagen einsammelte. Er holte Jades Mantel und legte ihn ihr fürsorglich um die Schultern. Dann machten sie sich auf den Weg. Als er sie abermals besorgt musterte, erklärte sie zuversichtlich: »Er hat die Antworten. Ich weiß, dass Jacques die Antworten hat. Er muss nur das Knäuel an Möglichkeiten entwirren.«
Lucian nickte, aber beide wussten, dass etwas zwischen ihnen ungesagt blieb.
Die Angst.
Lucian hatte Angst um sie. Es war ihm klar gewesen, dass seine Anwesenheit bald bemerkt werden würde. Das war ihm egal, er hatte ohnehin geplant, sich bald zu erkennen zu geben.
Aber jetzt …
Jetzt mussten sie sich nicht nur um die Sicherheit der DeVants kümmern.
Sondern auch um die von Jade.
Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Ich habe so etwas schon einmal durchgemacht. Ich fürchte mich nicht.«
»Das weiß ich«, sagte er, doch dann gab er zu: »Aber ich fürchte mich.«
»Das brauchst du nicht!«
»Wir müssen die Sache zu Ende bringen, und zwar rasch.«
»Das werden wir«, erwiderte sie.
»Seltsam«, murmelte er.
»Was denn?«
»Ich glaube, die Antwort liegt bei der Enkelin des Alten«, meinte Lucian. »Aber sie weiß es nicht, sie weiß nicht, dass sie die Antwort hat, in ihrem Kopf, in ihren Träumen.«
Er schloss die Tür ab, auch wenn er sich fragte, warum.
Es war, als würde man die Stalltür verriegeln, nachdem das Pferd gestohlen worden war.
Louisa stand neben dem großen Kamin und beobachtete die tanzenden Flammen. Als er hereinkam, wandte sie sich ihm zu, ein Lächeln auf den Lippen, die Arme verschränkt. »Alles läuft bestens«, versicherte sie ihm.
»Wo warst du, was hast du getan?«
»Ach, ich habe uns nur etwas zum Abendessen besorgt«, erwiderte sie.
»Wo?«
»Tja nun – ich habe einen jungen Mann mitgebracht. Ich habe ihn unseren Gegnern entrissen.«
»Welchen Gegnern? Wo?«
»Lucian DeVeaus Frau war dort.«
Sein Herz machte einen kleinen Freudensprung. »Und was ist mit ihr?«
Louisas Wimpern flatterten, und ihr wunderschönes Gesicht verzog sich gereizt. »Was soll mit ihr sein?«
»Du hast sie nicht mitgenommen?«
Sie musterte ihn kühl. »Nein.«
»Wenn wir sie hätten …«
»Und du? Hast du getan, was du tun wolltest?«, konterte Louisa verstimmt. »Wo steckt die junge DeVant?«
»Sie wird bald kommen«, erwiderte er. »Doch eigentlich muss der Alte sterben«, erinnerte er sie. »Und außerdem will ich die andere Enkelin.«
»Nun, wie ich die Sache sehe, hast du weder den Alten noch eine seiner Enkelinnen mitgebracht.«
»Wenn du etwas unauffälliger aus deinem Grab gestiegen wärst, dann hätte ich schon längst alles geregelt.«
Louisa lächelte nur und wies auf die Umgebung hin, die er so sorgfältig ausgesucht hatte. »Sieh dich um: Seit ich da bin, sind wir hervorragend geschützt. Hier kann uns niemand etwas anhaben. Und unsere Kraft wächst von Stund zu Stund. Wenn die anderen Tag und Nacht nach uns suchen, kannst du sie nicht herbringen. Aber keine Sorge, mein Lieber – du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Macht ich hier bereits gesammelt habe. Von nun an brauchst du mir keine Unterweisungen mehr zu erteilen – ich werde sie dir erteilen.«
»Du törichtes Weib. Hast du denn alles vergessen?«
»Was soll ich vergessen haben?«, fragte sie kühl.
»Du hast in einem versiegelten Sarg gesteckt«, gab er zu bedenken. »Und ich … bis ich wieder heil war … das war eine höllische
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