Reich durch Hartz IV
keine Regeln vor, unterrichtet gegen eine Dauergeräuschkulisse an. Warum sie sich das bieten lässt, ist mir ein Rätsel: »Haben Sie Angst, dass Ihre Schüler ausrasten, wenn Sie Disziplin einfordern?« Die Lehrerin, Andrea Holland, erklärt: »Nicht, dass sie ausrasten, aber dass sie dann gar nicht mehr mitarbeiten. Das fände ich persönlich viel schlimmer. Sie schalten dann ganz ab. Das endet meistens so, wenn man ihnen zu viele Regeln auferlegt. Sie kommen immer nur mit kleinen Häppchen zurecht. Sobald ich zu viel fordere, machen sie gar nichts mehr, dann reagieren sie mit kompletter Arbeitsverweigerung, und selbst wenn man ihnen dann sagen würde: ›Ich trage dir für heute eine Sechs ein‹, erwidern sie in dem Moment: ›Ist mir doch egal.‹« Auch die Schulleiterin sieht das so: »Also, man sollte sie möglichst wenig reizen. Man merkt das ja, wenn das Ganze eskaliert, und dann ist es schon besser, wenn man die Kinder oder die Jugendlichen beruhigt. Wir hatten schon mal den Fall, da stand jemand mit einem langen Messer vor mir.«
Die ständigen Interventionen, Gespräche, das Gut-Zureden langweilen die Schüler, bringen sie jedenfalls nicht in Bewegung. Das Einzige, was sie sich merken: Irgendjemand kümmert sich schon und löst meine Probleme.
Es gehört zum Profil des Kurses, dass die Jugendlichen Praktika machen müssen. Die sollen ihnen die Tür in einen der ortsansässigen Betriebe öffnen, ihnen vielleicht sogar zu einem Ausbildungsplatz verhelfen, wenn sie sich gut anstellen, fleißig sind, pünktlich erscheinen, regelmäßig kommen. Doch die Realität sieht anders aus: Die Bemühungen laufen ins Leere. Oft genug winken die Firmen auch ab. Der Grund sind schlechte Erfahrungen in der Vergangenheit. Die Absolventen werden darum ermuntert, selbst auf die Suche nach einem Praktikumsplatz zu gehen, für viele eine willkommene Abwechslung vom langweiligen Schulalltag mit Grundrechenarten, Völkerwanderung und Paarhufern.
Vedats Familie ist einst aus der Türkei nach Deutschland eingewandert. Seine Schwägerin besitzt ein Brautmodengeschäft. Stolz weist Vedat einen Praktikumsplatz im Laden seiner Schwägerin vor. Ein Stück Papier mit dem Briefkopf des Geschäfts und ihrer Unterschrift reicht. Niemand in der Schule ist stutzig geworden oder hat kritisch nachgefragt, wieso er ausgerechnet in einem Geschäft zu arbeiten gedenkt, in dem sich türkischstämmige Frauen aus- und umziehen und in Begleitung ihrer weiblichen Verwandtschaft ein Brautkleid aussuchen. Das ist definitiv ein Ort, an dem ein junger Mann von Anfang 20 nichts zu suchen hat. Spräche sich das im Stadtteil herum, könnte die Schwägerin ihren Laden gleich zumachen. Ich gehe in das Brautmodengeschäft, doch natürlich ist er da gar nicht erst aufgetaucht und hat sich mit Freunden irgendwo in die Gegend verdrückt. Sprechen darf die Schwägerin nicht mit uns. Das hat er ihr verboten.
Eine junge Frau hat keine Aussicht auf den gewünschten Praktikumsplatz. Sie will Friseurin werden, trägt aber ein Kopftuch. »Weder ein deutscher noch ein türkischstämmiger Friseur ist bereit, sie einzustellen«, erzählt die Schulleiterin und zuckt ein wenig hilflos mit den Achseln. »Alle haben argumentiert, dass die Kunden keine Friseurin akzeptieren, die ihre eigenen Haare verhüllt. Sie hat sich ihre Jobfalle selbst aufgestellt.« Doch niemand im Jobcenter hat sie bisher energisch darauf hingewiesen, dass sie mit diesem unerfüllbaren Berufswunsch auch ihren Anspruch auf die Zahlung von Arbeitslosengeld II verwirkt habe und sie sich entweder nach einem anderen Berufsziel umsehen oder während der Berufsausübung auf das Kopftuch verzichten müsse.
Einige Mitschüler von Vedat haben zwar ihr Praktikum angetreten, es aber nach kurzer Zeit wieder abgebrochen. Lisa versucht zu erklären, warum sie nicht durchgehalten hat: »Weil es im letzten Betrieb nicht so geklappt hat. Auch mit den Mitarbeitern nicht so ganz.« Auch Andreas hat nach kurzer Zeit hingeschmissen: »Ich bin nicht klargekommen, also gar nicht klargekommen. Man darf ja auch gar nichts sagen, also die ganzen Gesellen in dem Betrieb haben gemeint‚ halt lieber deinen Mund und sag gar nichts und wenn man dann den Mund aufmacht, dann ist’s halt auch blöd.« Marcel träumt von einem Job in der IT-Branche. Er ist entschlossen, es dieses Mal zu schaffen. »Glaubst du, dass ihr es alle packt in der Klasse?«
»Ne, nicht alle. Ein paar Leute schaffen es nicht, also sie schaffen es ganz
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