Reich durch Hartz IV
Erziehungshilfen und Heimunterbringung sind zwischen 2006 und 2010 um exakt ein Drittel gestiegen. Thomas Rauschenbach, Vorsitzender des Deutschen Jugendinstituts e.V., kurz DJI, nennt die Kinder- und Jugendhilfe einen ›Wachstumsmotor‹. Allein zwischen 2006 und 2010 stieg die Zahl der Sozialarbeiter, die sich um Kinder und Jugendliche kümmern, um 17 Prozent. In den Heimen wurden mehr als ein Viertel zusätzliche Betreuer eingestellt. Bei den Familienhelfern, die sich ambulant um die Kinder kümmern, betrug der Anstieg sogar 36 Prozent. Das alles in nur vier Jahren.« Dass irgendein Betreuungsunternehmen einräumen würde, der Jugendliche Kevin oder Justin sei inzwischen der Betreuung entwachsen, mündig, selbstständig und könne für sich selbst sorgen, kommt höchst selten vor. Eine dauerhafte Betreuung sichert schließlich den Arbeitsplatz des Helfers. Und Helfen kostet …
Heinz Buschkowsky ist ein Praktiker, der eine Menge Erfahrung in seinem Stadtteil in Berlin mit jungen Menschen ohne Ausbildung hat, die Hartz IV bekommen. In seinem Buch: »Neukölln ist überall« erzählt er von seinen Versuchen, jungen Leuten zu einer Lehrstelle oder einem Schulplatz zu verhelfen. Seine Erfahrungen sprechen Bände: Nicht ein einziges Mal sei es ihm gelungen. Und das hat offenbar nicht am Ausbildungsbetrieb oder am bösen Chef gelegen, der nicht bereit gewesen war, den Jugendlichen eine Chance zu geben. »Immer wieder erwiesen sich angebliche Leistungsbereitschaft oder Interessensbekunden als hohle Phrasen. Wenn es ernst wurde, taten sich jeweils unüberwindliche Hürden auf, die es unmöglich machten, das Angebot anzunehmen, oder es tauchten plötzlich Gründe auf, weshalb es im Moment gerade äußerst ungelegen kam. Die Hinweise von Oma oder Papa solle ich mal nicht so ernst nehmen, die hätten etwas missverstanden. Den Vorstellungstermin bei einem Unternehmen konnte der junge Mann nicht wahrnehmen, weil er frisch verliebt mit seiner Freundin nach Mallorca fliegen musste. Der vorgetragene Wunsch, einen bestimmten Beruf zu erlernen, relativierte sich durch die Mitteilung des Jobcenters, dass der Betreffende genau jene Ausbildung schon zwei Mal geschmissen habe. Verabredete Termine wurden ohne abzusagen nicht eingehalten […] gerade für junge Menschen scheinen die Verlockungen von Hartz IV eine solch beherrschende Macht zu entwickeln, dass sie zu einer vernünftigen Güterabwägung und zum Denken über den Tag hinaus nicht mehr fähig sind.«
Und das ist »keine verschwindend geringe Zahl von Einzelfällen«, sagt der Autor. Doch was machen wir mit solchen Zustandsbeschreibungen wie denen von Buschkowsky, Jobberatern, Ausbildern? Sie passen offenbar nicht in das Weltbild der Sozialromantiker und Berufskümmerer mit Helfersyndrom, sie werden von diesen ignoriert, unter den Teppich gekehrt, verschwiegen.
Kellner verzweifelt gesucht
In Hamburg haben mein Team und ich eine Verabredung mit Klaus Müller vom Arbeitgeberservice des Jobcenters. Er steht in Kontakt mit Firmen, Geschäften, Hotels, Gaststätten oder Restaurants, die händeringend Serviceleute, Hilfskräfte, Zimmermädchen, Kellner oder Küchenhilfen suchen.
Aus dem Arbeitslosen-Pool hat er mit seinen Kollegen 15 Erwerbslose ausgewählt und für heute zum Interview eingeladen. Im Halbstundentakt will er mit ihnen Gespräche führen. Ich warte mit ihm seit 9 Uhr, doch auf dem Flur herrscht gähnende Leere. Dafür klingelt ständig das Telefon. »Arbeitgeberservice Klaus Müller«, meldet er sich, um dann eine Absage nach der anderen entgegenzunehmen: »Ach so, wenn Sie niemanden haben, der heute das Kind zum Kindergarten bringt, dann können Sie wohl nicht kommen?« Oder: »Wenn Sie den Bus verpasst haben, könnten Sie doch einen späteren nehmen? Ach, das geht nicht? Gut, dann streiche ich Sie von der Liste.« So geht das die ganze Zeit. Klaus Müller bleibt höflich, wünscht allen noch einen schönen Tag und kocht sich den dritten Kaffee. Die Erfahrung, dass er am Ende allein rumsitzt und vergeblich wartet, ist für ihn nicht neu. »Gerade bei den unter 25-Jährigen ist die Trefferquote, das heißt die Anzahl derjenigen, die auf eine Einladung hin auch tatsächlich erscheinen, selten höher als zehn Prozent, was bedeutet: Wir laden zehn ein und einer kommt.« Dabei hat er eine Menge Stellen im Angebot: vom Zimmermädchen über die Servicekraft bis zur Kellnerin, angefangen im renommierten Fünf-Sterne-Hotel über die Imbissbude bis hin zur gutbürgerlichen
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