Reich durch Hartz IV
Tochtergesellschaften in zwölf Bundesländern) am Unterricht teil, wo junge Leute im Alter zwischen 18 und 25 in sieben Monaten den Hauptschulabschluss machen sollen, um dann vielleicht eine Lehrstelle zu ergattern. Die Agentur für Arbeit hat sie geschickt: 15 Jugendliche ohne Ausbildung, ohne Abschluss, ohne Perspektive. Die meisten verhehlen nicht, dass sie keinen Bock haben. Einer von ihnen hat Kopfhörer in den Ohren und wiegt sich versonnen im Takt seiner für die anderen nicht hörbaren Musik. Zwei andere unterhalten sich angeregt, einige hämmern auf der Tastatur ihres Handys herum. Ständig geht die Tür auf und zu.
Unterrichtsbeginn war acht Uhr. Jetzt ist es 8.30 Uhr, und immer mal wieder schlurft ein Schüler herein und setzt sich – ohne Entschuldigung. Zu spät zu kommen ist offenbar normal. Pünktlichkeit hat hier noch keiner durchsetzen können. Man blättert lustlos in Büchern und Heften herum, öffnet unter lautem Geknister eine Keksrolle oder packt eine Schnitte aus. Alle wissen, es ist ihre letzte Chance, aber niemand hat ihnen beigebracht durchzuhalten. Die Schüler zappeln, sind unkonzentriert, können nicht zuhören. Philipp, den jungen Mann mit Knopf im Ohr, frage ich: »Was hast du da eigentlich für ein Ding, das da aus deinem Ohr hängt?«
»Das ist vom Handy, vom Radio.«
»Und das Ding hast du immer in deinem Ohr? Du hörst im Unterricht immer nebenbei noch ein bisschen Musik, oder?«
»Ja, ab und zu mal. Wenn es langweilig ist.«
Marcel ist einer der wenigen, die mitschreiben, was die junge Lehrerin erklärt, der ab und zu die Hand hebt und sich beteiligt. Wieso er es nicht geschafft hat, den Hauptschulabschluss zu machen, will ich wissen. Marcel gesteht ein, dass er etwas falsch gemacht hat: »Ich hab’ Mist gebaut im Unterricht. Bin nie hingegangen, hab’ geschwänzt und all so was halt.« Freundlich sei er auch nicht immer gewesen zu den Lehrern, bis er schließlich mal wieder von der Schule geflogen sei. »Bedauerst du, dass du in der Hauptschule nicht schon die Kurve gekriegt hast?«
»Ich bin jetzt schon 21. Bis ich fertig bin, bis ich meine Ausbildung habe, bin ich schon 25. Dann erst bin ich fertig mit allem. Das ist für ’n Arsch. Deshalb bin ich ja rausgeflogen bei den Firmen, weil, wenn es darum ging, dass Leute raus mussten, dann flogen die Hilfsarbeiter zuerst raus, die nichts gelernt hatten. Die mussten halt sofort gehen. Wenn man halt was gelernt hat und erst mal einen Abschluss hat, dann ist alles besser. Wenn man gar nichts hat, ist es so wie bei uns jetzt.«
Vedat, der neben ihm sitzt, sind solche Einsichten fremd. Er stammt aus einer Migrantenfamilie, ist aber in Deutschland geboren und aufgewachsen. Trotzdem ist sein Deutsch fehlerhaft, sein Akzent unüberhörbar. Zu Hause, räumt er freimütig ein, sprächen sie nur Kurdisch. Deutschstämmige Bekannte und Freunde habe er keine. Seine Eltern hätten Kindergeld bekommen, und als Hartz-IV-Bezieher erhielten sie auch den Regelsatz für den 22-Jährigen, monatlich 306 Euro.
Niemand hatte den Eltern zur Auflage gemacht, ihren Jungen mit guten Deutschkenntnissen einzuschulen oder ihn frühzeitig in eine Kita zu schicken, um seine Chancen zu verbessern. Der junge Mann hat sein ganzes Leben lang mitbekommen und gelernt, dass er für sich keine Verantwortung übernehmen muss. Seine Eltern und er kennen nichts anderes als Sozialhilfe und Hartz IV, davon zu existieren ist für sie zum Lebensprinzip geworden. Sich aufzurappeln, zu versuchen, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, auf diese Idee musste Vedat auch nicht kommen: Das System »Daueralimentierung« hat bei ihm zur festen Verankerung der Vollkasko-Mentalität beigetragen. Er weiß: Das Jobcenter kümmert sich, schickt ihn hierhin und dahin. Man hat es ihm bislang immer bequem gemacht, alles für ihn geregelt – nur »gekuschelt« und nichts gefordert. Früher kam zwar auch mal ein Familienhelfer vorbei, ein Sozialpädagoge, der ihm gut zuredete und etwas von Integration und kulturellen Unterschieden murmelte. Beeindruckt hat das weder Vedat noch seine Familie. Das Geld vom Amt kam ja stets weiter – das war die Hauptsache. So ist es nur folgerichtig, dass Vedat findet, alle anderen seien an seinem bisherigen Scheitern in der Schule Schuld, nur er nicht: »Die Schule war auch nicht so in Ordnung. Die Lehrer waren auch irgendwie nicht in Ordnung. Das habe ich auch schon von ganz vielen gehört, also, das sagen auch ganz viele, dass die Lehrer da nicht so
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