Reich durch Hartz IV
der Fachhochschule in Koblenz, ist Experte in Arbeitsmarktfragen. Er hält nichts von »Projektionitis«, vielen kurzfristigen effekthascherischen Kursen, die nicht in den Ersten Arbeitsmarkt führen. Stattdessen plädiert er gemeinsam mit Gewerkschaften und Betrieben für einen zweiten Arbeitsmarkt, wo sich in sogenannten Sozialunternehmen wie der Werkstatt Frankfurt oder in Handwerksbetrieben Arbeitslose beweisen könnten und so eher eine Chance hätten, sich auch auf dem Ersten Arbeitsmarkt zu bewähren und Fuß zu fassen. »Natürlich«, räumt auch Sell ein, »funktioniert das nur, wenn Arbeitslose mitziehen, also auf freiwilliger Basis.« Es gebe genug Aufgaben, die notwendig, aber von der öffentlichen Hand nicht mehr zu finanzieren seien, zum Beispiel die Grundrenovierung von Schulen oder Kindergärten, wo heute oft genug aufgrund fehlender Mittel nur oberflächliche Reparaturen vorgenommen würden, sagt Sell. Warum also sollten solche Arbeiten nicht von Langzeitarbeitslosen unter Anleitung von Handwerksbetrieben gemacht werden? Diese könnten sich von den Fähigkeiten der Arbeitslosen überzeugen, die wiederum langsam einen Fuß in die Tür zurück zum Ersten Arbeitsmarkt bekämen. Dass damit Aufträge verloren gingen, lässt Sell nicht gelten. Die Kommunen könnten diese gar nicht vergeben, weil die entsprechenden Mittel nicht vorhanden seien und müssten sich vermutlich mit notdürftigen Schönheitsreparaturen zufriedengeben. Warum also sollten dann nicht Firmen, die Langzeitarbeitslose anleiten und beschäftigen, solche Aufgaben übernehmen? Keine Supermärkte für Micky Maus und kein Puzzeln, sondern richtige Arbeit, die von Nutzen ist.
Stattdessen wird gefordert, der Würde und der Teilhabe wegen immer mehr Geld in dieses System hineinzupumpen. Politiker wie Oskar Lafontaine können öffentlich in Talkshows darüber lamentieren, es sei unwürdig, einem Sparkassendirektor, der seinen Job verloren habe, eine vorübergehende Arbeit in einem Jugendzentrum, im Schwimmbad oder in einer Reinigungsfirma anzubieten.
Ist es würdevoller, von Geld zu leben, das andere mit ihrer Arbeit aufbringen müssen? Solange jemand in der Lage ist, etwas zu tun, und sei es Schneeschippen im Winter, ist eine Diskussion absurd, die eine solche Arbeit als »unwürdig« oder gar »unmenschlich« abtut. Auch als im harten Winter 2010/2011 öffentlich zaghaft die Forderung erhoben wurde, vielleicht und eventuell Langzeitarbeitslose zum Schneeräumen unterstützend hinzuzuziehen, gab es sofort heftige Diskussionen über Zumutbarkeit und Menschenwürde. Warum es aber würdelos sein soll, der Gesellschaft, die solidarisch Langzeitarbeitslose unterstützt, etwas zurückzugeben in Form solcher Hilfe, bleibt rätselhaft.
Forderung: Mittel dürfen nicht verschwendet, sondern müssen sinnvoll und zielführend eingesetzt werden. Dieses System ist auf absehbare Zeit nicht mehr finanzierbar, denn den Rundum-sorglos-Sozialstaat wird es bald aus Mangel an Geld und wegen Überschuldung nicht mehr geben. Auch dann nicht, wenn wir wieder einmal Exportweltmeister würden, die Konjunktur sich nicht abschwächen, die Produktivität der deutschen Wirtschaft um hundert Prozent steigen würde. Denn: aus den Kindern, die uns fehlen, werden bald fehlende Arbeiter und Steuerzahler. Und die wenigen, die den Sozialstaat stützen müssen, werden vermutlich nicht mehr dazu bereit und auch nicht in der Lage sein, das weiterhin in solchem Ausmaß zu tun.
Wir können es uns definitiv nicht mehr leisten, weitere Milliarden Euro in diese riesige Hartz-Maschinerie zu pumpen. Denn das Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit IZA prognostiziert, dass durch die Überalterung unserer Gesellschaft schon im Jahr 2020 die Sozialbudgets unter Berücksichtigung der steigenden Kosten für die Sozialsysteme mit zusätzlich 70 Milliarden Euro belastet werden.
Trotzdem brummt die Hartz-Maschine weiter, man gibt gern viel Geld für Unsinn aus und macht es den Profiteuren leicht. Dem tapferen, deutschen Steuerzahler sei Dank.
»Ich wünsche Ihnen einen langsamen, qualvollen, Tod« versus »Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Mut« – Reaktionen
Gibt man Erfahrungen und Situationen wie die oben beschriebenen in einem Film oder in einer Talkshow wieder, wird sofort entgegnet, man habe eben den falschen Blick. Der in Berlin lebende Schriftsteller Zafer Senocak hat dieses Phänomen sehr klar und hellsichtig in einem Artikel im Tagesspiegel beschrieben: »In den nächsten Jahrzehnten
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