Reich und tot
wurde es einen Moment lang still. Als er ihre Stimme wieder hörte, waren die Hintergrundgeräusche verstummt. Sie musste in ein anderes Zimmer gegangen sein, damit sie ungestört reden konnten.
»Du meinst, du würdest mitkommen?«
»Klar«, sagte er, unsicher. »Warum nicht?«
Natürlich fühlte er sich sicherer, je weniger Leute über sie Bescheid wussten. Zusammen irgendwo aufzukreuzen, war ein Risiko, egal wo, egal wann. Und dann Tony Scruton: Er war Maler, ein Ex von Rachel, den sie sich, ganz à la mode, als Freund erhalten hatte. Zu Beginn ihrer Beziehung, als Kerr weder das eine noch das andere Label aufgedrückt bekommen wollte, hatte sie ihn davon überzeugt, dass nur ein Höhlenbewohner oder Sexistenschwein etwas dagegen haben könne. Als er Scruton dannpersönlich kennengelernt und von Anfang an nicht gemocht hatte, war es zu spät für einen Rückzieher gewesen.
Denk mit dem Kopf, nicht mit dem Schwanz,
hatte Jacobson gesagt. Der hatte gut reden, der verspürte auch nicht diesen Drang, sie zu sehen und mit ihr zusammen zu sein.
Er fuhr in die Thomas Holt Street und wartete vor dem Haus auf sie und ihre Freundinnen. Die ganze Sache fühlte sich mehr und mehr wie eine Zeitbombe an. Früher oder später würde er damit in die Luft gehen. Crowby war eine ziemlich große Stadt, und Rachel und Cathy bewegten sich in Kreisen, die kaum weiter voneinander hätten entfernt sein können. Vor der Geburt der Zwillinge war Cathy im Marketing gewesen, ihre Freunde und Freundinnen arbeiteten in Banken, Bausparkassen und Maklerbüros. Rachel war auf die Kunstakademie gegangen und hielt sich selbst für so etwas wie eine Künstlerin, wenn sie auch kaum je etwas verkaufte. Über Wasser hielt sie sich mit ihrer Aushilfsarbeit in der »Looking East Gallery« und ihren Inneneinrichtungs- und Feng-Shui-Geschichten. Aber so wie das Leben spielte, mussten sie früher oder später einfach jemandem begegnen, der sich in beiden Welten bewegte. Jemandem, der so durch und durch unbescholten war, dass er sich nicht von der Idee schrecken ließ, mit einem Polizisten aneinanderzugeraten und ihn sich zum Feind zu machen.
Nur Rachel setzte sich zu Kerr ins Auto. Zu seiner Erleichterung fuhren Kate und Judy in Kates rostigem Riva hinter ihnen her. Er kannte Rachel jetzt seit vier Jahren, seit einer anderen Mordsache, dem Fall Roger Harvey. Er sah zu, wie sie in ihre Tasche griff und die Flasche Evian hervorholte, die sie überallhin zu begleiten schien. Er liebte es, wie sie daraus trank, mit großen, kräftigen Schlucken, sich anschließend mit dem Handrückenüber den Mund wischte und dabei die Finger sanft über die Nase bewegte. Er hatte in einer von Cathys Zeitschriften gelesen, dass Affären nur deshalb so lange hielten, weil man lediglich miteinander ins Bett stieg, Spaß zusammen hatte und sich dabei nie so gut kennenlernte, dass einen die Gewohnheiten des anderen die Wände hochtrieben.
Scruton war aus Wynarth weggezogen, in ein altes Farmarbeiter-Cottage am Ende eines schmalen, schlaglochübersäten Feldwegs. Kerr parkte, wahrscheinlich unerlaubt, auf dem angrenzenden Acker, und sie gingen zum Cottage hinüber, aus dem ›Block Rockin’ Beats‹ in den Sommerabend wummerte. Rachel nahm seine Hand, drückte sie und tanzte vor ihm her. Im Cottage begrüßte Tony alle überschwänglich und hätte womöglich auch
ihn
umarmt, wenn er gedacht hätte, damit durchzukommen. Wobei der Ausdruck auf seinem Gesicht, als er Rachel umarmte, für Kerr weniger nach »Wir sind alle Freunde« aussah als nach Dr. Schiwago und Lara.
»Wie schön, dich zu sehen – euch beide. Ich bin froh, dass ihr gekommen seid.« Er öffnete die Arme weit, Rachel trat einen Schritt zurück, und dann gab er Kerr die Art Knochen brechenden Handschlag, die der immer schon gehasst hatte.
»Wein? Bier?«
Kerr öffnete eine Dose lasches, schlecht gekühltes Lagerbier aus dem Supermarkt, während Tony für Rachel eine Plastiktasse mit Chablis füllte.
»Wenn ihr mögt, zeige ich euch später alles.«
Rachel nahm die Tasse.
»Das wäre toll, Tony. Ich möchte unbedingt sehen, woran du gerade arbeitest.«
Scruton ging nach draußen, wo getanzt wurde. Dasweiße kragenlose Hemd bildete einen grellen Gegensatz zu den tristen grauen Streifen seiner Secondhand-Weste. Rachel fuhr Kerr mit dem Finger den Arm herunter, eine stumme Bitte um Verträglichkeit.
»Die Küche ist so ... wunderbar«, sagte sie.
Auch Kerr fand sie beeindruckend. Der große Aga-Herd,
Weitere Kostenlose Bücher