Reich und tot
die frisch geweißelten Wände, die zwei, drei Möbelstücke aus Naturholz.
»Das ist ganz Linda McCartney, Rayche.«
Im Zentrum stand ein alter großer Bauerntisch aus massiver Eiche, auf dem das Büfett aufgebaut war. Kerr nahm sich ein Stück Quiche und Schweinefleischpastete. Bestimmt Bio-Fleisch. Er fragte sich, ob sich ein biologisch-dynamisches Schwein lieber die Kehle durchschneiden ließ, um von Tonys Partygästen verspeist zu werden, als ein konventionelles. Rachel stand nahe bei ihm und strich ihm mit der Hand über den Rücken. Was das Essen nicht einfacher machte. Sie hatte mit ihm herkommen und mit ihm gesehen werden wollen, aber jetzt, wo sie hier waren, hatte es den Anschein, als wollte sie lieber allein mit ihm sein. Nach einer Minute gab er es auf, stellte den Teller ab und küsste sie.
Er hatte sie mehr als einmal gefragt, was sie in ihm sah. Er war dreizehn Jahre älter. Über Kunst wusste er nur, was sie ihm erzählte. Der Großteil ihrer Freunde und Freundinnen hielt Polizisten für faschistischen Abschaum. Er hatte kaum Zeit für sie. Als sie eine Pause einlegten, um zu Atem zu kommen, trat eine Frau mit erwartungsvollem Lächeln zu ihnen, die sie beide nicht kannten.
»Carla«, verkündete sie. »Ich arbeite in der ›Ikon‹ in Birmingham, und was macht ihr?«
Eis am Stiel, dachte Kerr. Leck mich. Er wischte sicheinen Krümel aus dem Mundwinkel, den Rachel nicht erwischt hatte.
»Nichts Besonderes, Carla«, sagte er. »Öffentlicher Dienst. Das wird dich nicht interessieren.«
Es war nach halb zehn gewesen, als Kerr ihn am Präsidium abgesetzt hatte. Jacobson war in sein eigenes Auto gestiegen, hinaus zum Wellington Drive gefahren, und das Erste, was er machte, als er zu Hause durch die Tür kam, war, sich auszuziehen und gut und ausgiebig zu duschen. Die Dusche im alten Familienzuhause war eine trostlose Angelegenheit gewesen, mit einer Gummischlauchvorrichtung, die man über die Wannenhähne stülpte. Seine neue Dusche dagegen war ein richtiges Deluxe-Modell, kraftvoll und hocheffizient. Er drehte den Druck auf Maximum, und das Wasser massierte ihm mit tausend energiegeladenen Fingern den Rücken. Dann zog er sich frische Sachen an und schüttete sich eine magische Mischung aus Eiswürfeln und Glenfiddich in ein perfekt sauberes Whiskyglas.
Zurück auf dem Balkon, zurück in seinem Liegestuhl, griff er nach ›Heiden und Christen‹. Er las drei, vier Seiten, konnte sich aus unerfindlichen Gründen aber nicht richtig auf den Text konzentrieren. Vielleicht lag es an der fetten schwarzen Fliege, die penetrant sein Whiskyglas umkreiste, vielleicht aber auch daran, dass sich zwar sein Körper erfrischt fühlte, nicht jedoch sein Geist. Wieder und wieder spielte er ihm in einer unangenehmen, schnellen Abfolge die Bilder und Geräusche des Tages vor. Gestern Abend hatte er ruhig, fast zufrieden hier draußen gesessen. Vierundzwanzig Stunden konnten für einen Polizisten eine Ewigkeit sein. Nach einer Weile gab er es auf und ging wieder nach drinnen.
Seine Wohnung war wie der Rest des Hauses mit Kabelfernsehen ausgestattet, es war gleichsam im Preis mit inbegriffen. Das hieß, dass er jetzt zehn Minuten statt nur zwei damit verbringen konnte, sich durch dreißig statt durch fünf Programme zu zappen, um schließlich festzustellen, dass es nichts, aber auch gar nichts gab, was sich anzusehen lohnte. Absurderweise – und nicht zum ersten Mal – vermochte der Einkaufskanal seine Aufmerksamkeit eine Weile zu fesseln. Irgendwer glaubte offenbar, das Leben wäre noch schöner, wenn alle ein Goldkettchen mit Robbie-Williams-Amulett am Arm baumeln hätten. Er versuchte, sich auf die heisere Sicherheit in der Stimme des Moderators zu konzentrieren: Alles, ja, alles in dieser Welt war gut – und würde mit einem Kettchen geradezu perfekt werden. Aber das Bild, das sich ihm immer wieder vor Augen drängte, das Bild der ermordeten, misshandelten Jenny Mortimer, sagte ihm genau das Gegenteil, sagte ihm, dass es verdammt noch mal nicht so war. Ganz und gar nicht.
Er stellte den Fernseher aus, leerte sein Whiskyglas in einem Zug und beschloss, dass er sich wegen der Mordermittlungen vor dem Schlafengehen noch einen genehmigen konnte, vielleicht auch zwei. Mit dem Glas in der Hand schlurfte er durch die Küche. Auf den ersten Blick hatte Gus Mortimer alles, was Robert Johnson nicht hatte. Wohlstand, Erfolg, Ansehen, Kompetenz. Dennoch sah es ganz so aus, als wäre er noch einen Schritt weiter
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