Reid 2 Die ungehorsame Braut
warum wir beide uns nicht mehr wie normale Menschen unterhalten können.«
Nicht mehr? Hatten sie das je gekonnt? Da ihre Mutter in diesem Moment zurückkam, fühlte Ophelia sich nicht verpflichtet, ihrem Vater eine Antwort zu geben. Davon abgesehen, was hätte sie schon groß sagen können, ohne ihn gleich wieder zu erzürnen?
»So«, sagte Mary, die im Türrahmen stand. »Ich sagte doch, es würde nicht lange dauern.«
Ophelia trat vor sie und richtete ihrer Mutter die Schleife am Ausschnitt. »Du siehst wunderbar aus, Mama. Aber wir sollten uns jetzt sputen. Ich habe einen Bärenhunger.«
»Bist du sicher, dass du nicht doch vorher einen Happen zu dir nehmen möchtest? Es ist nicht sonderlich schicklich, sich den Bauch beim Gastgeber vollzuschlagen.«
Mary hatte recht. Manche Gastgeberinnen tischten just aus diesem Grunde Portionen auf, die nicht einmal einen hohlen Zahn füllten. Wenn sie jedoch nicht bald aufbrachen, würde Ophelia gänzlich die Lust auf den Abend vergehen. Selbst wenn sie seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr geweint hatte, spürte sie, dass sie noch immer nah am Wasser gebaut war. Als sie von den Gerüchten um sie und Rafe gehört hatte, war ein Teil ihrer Wut wieder aufgeflammt. Und genau dieses Gefühl paarte sich nun mit der Verzweiflung, noch immer keinen geeigneten Verlobten gefunden zu haben. Ophelia hoffte inständig, dass Raphael Locke sich nicht in London blicken ließ, bis sie ihre Wahl getroffen hatte.
Kapitel vierzig
N icht ein Wort, hast du verstanden?«, zischte Ophelia ihrem Tischnachbarn zu, als er neben ihr Platz genommen hatte.
Just in dem Moment, in dem sich die geladenen Gäste in der Residenz der Cades zum Abendessen an die Tafel gesetzt hatten, war Rafe eingetroffen. Eigentlich hätte er - zumindest aus Ophelias Sicht - am entgegengesetzten Ende des Tisches sitzen sollen, da in ihrer Nähe alle Plätze belegt waren, doch die Gastgeberin hatte es sich nicht nehmen lassen, in letzter Sekunde die Tischordnung umzuwerfen, sodass die beiden nebeneinander saßen. Und das alles nur wegen dieser vermaledeiten Gerüchte.
Ophelia war froh, dass sie bislang niemand nach ihrem Verhältnis zu Raphael gefragt hatte. Vermutlich ging die Allgemeinheit davon aus, dass die Gerüchte auf der Wahrheit basierten.
Im Grunde überraschte es Ophelia nicht, dass auch Rafe eine Einladung erhalten hatte.
Die Tatsache, dass ihre Mutter auf ihrer anderen Seite saß, tröstete sie ein wenig. Ophelia riss den Kopf herum und raunte ihr zu: »Sprich bitte mit mir, Mama. Sag irgendwas. Tu so, als wären wir in ein Gespräch vertieft.«
»Den Gefallen tue ich dir gern, meine Liebe, aber es spricht nichts dagegen, wenn du in geselliger Runde ein wenig mit ihm plauderst. Schließlich gehört er ja bereits so gut wie zur Familie.«
Ophelia traute ihren Ohren nicht. Steckte ihre Mutter etwa mit ihrem Vater unter einer Decke? Sherman hatte ganze Arbeit geleistet, das musste sie ihm lassen. Er hatte es geschafft, ihre Mutter davon zu überzeugen, dass ihre Heirat mit dem Viscount so gut wie sicher war.
Als wäre es das Normalste auf der Welt, legte Raphael den Arm auf die Lehne von Ophelias Stuhl und lehnte sich zu ihr herüber, als wäre er Teil der Unterhaltung. »Du solltest etwas leiser sprechen, wenn du sichergehen möchtest, dass ich dich nicht hören kann, Phelia«, meinte er mit einem süffisanten Lächeln in der Stimme.
Ophelia drehte sich zu ihm um und setzte für die anwesenden Gäste ein Lächeln auf, während sie ihn anraunte: »Ich dachte, ich hätte dir den Mund verboten. Ich möchte nichts mehr mit dir zu tun haben.«
Raphael seufzte. »Ich verstehe gar nicht, warum du so ungehalten bist. Obwohl, so stimmt das auch wieder nicht. Aber wenn du nur einen Augenblick darüber nachdenkst, wirst du merken, dass ich dir aus den richtigen Motiven heraus geholfen habe. Die dumme Wette war nur der Auftakt. Außerdem hilft es uns nicht, aus diesem Schlamassel herauszukommen, wenn du mich links liegen lässt.«
»Dich zu ignorieren ist meine einzige Chance«, zischte sie. »Es sei denn, du möchtest die Hauptrolle in der Szene spielen, die ich ansonsten gleich hinlegen und mit der ich dich bis ins nächste Jahrhundert hinein blamieren werde.«
»Danke der Nachfrage, aber ich muss leider ablehnen.« Noch im selben Moment wandte Raphael sich seinem anderen Nachbarn zu und begann ein Gespräch mit ihm.
Ophelia starrte mit weit geöffnetem Mund ungläubig auf seinen Hinterkopf. Die
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