Reif für die Insel
und ein weiterer vor mir lag, fühlte ich mich wie ein Fisch auf dem Trockenen, und ich wurde ungeduldig wie am Ende einer langen Genesungszeit. Na, wenigstens, dachte ich frohgemut, hatten die für die Jahreszeit exorbitanten fünf Zentimeter Schnee, die East Anglia so grausam heimgesucht, Chaos auf den Straßen verursacht und die Leute gezwungen hatten, sich durch lebensgefahrliche, bis zu knöcheltiefe Schneeverwehungen zu kämpfen, diese Ecke Englands gnädigerweise verschont. Hier waren die Elemente gütig gestimmt, und die Welt außerhalb des Speisesaals funkelte schwach in der blassen winterlichen Sonne.
Ich beschloß, mit dem See-Dampfer nach Ambleside zu fahren. Da würde ich nicht nur eine Stunde totschlagen und den See anschauen können, sondern auch an einen Ort kommen, der schon eher wie eine Stadt und weniger wie ein Seebad an der falschen Stelle war. In Bowness gab es nämlich sage und schreibe achtzehn Pullover-Läden und wenigstens zwölf mit Peter-Rabbit-Zeugs, aber nur eine einzige Fleischerei. Und obwohl auch Ambleside durchaus mit den mannigfaltigen Möglichkeiten vertraut war, wie man sich an umherschweifenden Touristenhorden bereichert, hatte es wenigstens eine vorzügliche Buchhandlung und Unmengen Globetrotterläden, die ich nun wieder irrsinnig, wenn auch unerklärlicherweise unterhaltsam finde. Ich kann stundenlang Rucksäcke, Kniestrümpfe, Kompasse und Überlebensrationen inspizieren, dann in ein anderes Geschäft gehen und haargenau das gleiche wieder tun. Ich tigerte also nach dem Frühstück mit einer gewissen erregten Vorfreude zur Ablegestelle, wo ich leider feststellen mußte, daß die Dampfer nur in den Sommermonaten fahren, was an diesem milden Morgen kurzsichtig schien, denn selbst jetzt wimmelte es in Bowness von Ausflüglern. Durch die schlurfenden Touristengruppen bahnte ich mir einen Weg zu der kleinen Fähre, die zwischen dem Ort und dem alten Fährhaus am gegenüberliegenden Ufer hin und her tuckert. Das sind zwar nur ein paar hundert Meter, doch zumindest fährt sie das ganze Jahr.
Eine bescheidene Reihe Autos und acht bis zehn Wanderer mit Fleece Jacken, Rucksäcken und Bergschuhen warteten geduldig an der Zufahrt zur Fähre. Ein Mann trug sogar Shorts – bei einem britischen Wanderer immer ein Zeichen fortgeschrittener Demenz. Meine Liebe zum Wandern – das heißt, Wandern im britischen Sinn – hatte ich erst vor relativ kurzer Zeit entdeckt. Ich war zwar noch nicht so weit, daß ich Shorts mit vielen Taschen trug, aber ich hatte mir schon angewöhnt, die Hosenbeine in die Socken zu stopfen. (Wenn ich auch noch nie jemanden gefunden hatte, der mir erklärte, was das eigentlich für einen Nutzen bringt, außer daß man ernsthaft und der Sache verpflichtet aussieht.)
Als ich noch nicht lange in Großbritannien war, ging ich einmal in eine Buchhandlung und sah überrascht, daß eine ganze Abteilung »Wanderführern« vorbehalten war. Das fand ich reichlich ulkig, ja, bizarr, denn wo ich herkam, brauchten die Leute in der Regel keine schriftlichen Instruktionen, um sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. Aber dann lernte ich allmählich, daß es in Großbritannien, grob gesagt, zwei Arten von Wandern gibt, nämlich das alltägliche, das einen ins Pub, und, wenn alles gutgeht, auch wieder nach Hause bringt, und das ernsthaftere, bei dem festes Schuhwerk, topographische Karten in Plastikhüllen, Rucksäcke mit Sandwiches und Thermosflaschen mit Tee und im letzten Stadium das Tragen von khakifarbenen Shorts auch bei unmöglichem Wetter unerläßlich sind.
Jahrelang hatte ich beobachtet, wie sich diese Wandervögel bei nasser, widrigster Witterung wolkenverhangene Berge hinaufschleppten, und sie für echt wahnsinnig gehalten. Doch dann fragte mich mein alter Freund John Price, der in Liverpool aufgewachsen ist und seine Jugend damit verbracht hat, Kletterpartien in felsigen Steilwänden im Lake District zu veranstalten, ob ich nicht mal mit ihm und ein paar Freunden an einem Wochenende einen Spaziergang – das Wort benutzte er – auf den Haystacks machen wollte. Ich glaube, die beiden harmlosen Worte »Spaziergang« und »Haystacks«, verbunden mit dem Versprechen, daß wir uns danach ordentlich einen hinter die Binde kippen würden, veranlaßten mich, meine natürliche Vorsicht aufzugeben.
»Bist du sicher, daß es nicht zu schwer ist?« fragte ich.
»Naah, nur ein Spaziergang«, wiederholte John.
Es war natürlich alles andere als das. Stundenlang kraxelten wir
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