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Reif für die Insel

Reif für die Insel

Titel: Reif für die Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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um den Schaden an seinem Auto zu begutachten. Vielleicht dachte er, er sei über einen Nagel gefahren. Wir dahinter kamen natürlich alle zum Stehen. Ich erinnere mich, daß ich empört und bestürzt beobachtete, wie er versuchte, eine lose Leiste zurechtzudrücken. Und dann sah ich an meinem Fenster ein wütendes Gesicht – einen weißen Burschen mit tanzenden Rastalocken und Armeejacke –, und alles wurde alptraumartig. Wie komisch, dachte ich, daß ein völlig Fremder mich gleich aus dem Auto zerren und windelweich schlagen wird wegen Druckern, die er nicht kennt, die ihn aber durch die Bank als gammeligen Hippie verachtet und bestimmt nie in ihre Gewerkschaft aufgenommen hätten, die jahrzehntelang geradezu obszön überzogene Löhne herausgehandelt hatte. Gleichzeitig durchschoß mich die Befürchtung, daß ich mein teures Leben für einen Mann opfern sollte, der seine Staatsangehörigkeit aus wirtschaftlichem Eigennutz aufgegeben hatte, nicht wußte, wer ich war und mich ohne viel Federlesens rausschmeißen würde, wenn er eine Maschine fand, die meine Arbeit verrichtete, und der sich großherzig dünkte, wenn er mir Halb-Liter-Dosen Bier und schlaffe Stullen spendierte. Ich sah schon vor mir, wie die Firma an meine Frau schrieb: »Sehr geehrte Mrs. Bryson, in Würdigung des kürzlichen tragischen Todes Ihres Mannes durch die Hand eines entsetzlichen Mobs möchten wir Ihnen gern dieses Sandwich und diese Büchse Lager übersenden. PS – Würden Sie bitte unverzüglich den Parkausweis zurückschicken?«
    Und während all dies ablief, während ein gigantischer, wilder Mann mit Rastalocken versuchte, meine Autotür aufzureißen, um mich zappelnd in die Dunkelheit zu zerren, ging ein Blödmann aus dem Auslandsressort vierzig Meter vor mir langsam um seinen Peugeot und begutachtete ihn in aller Seelenruhe, als wolle er ihn als Gebrauchtwagen kaufen. Gelegentlich blieb er stehen, um einen erstaunten Blick auf die Ziegelsteine und Schläge zu werfen, die auf die Autos hinter ihm prasselten. Vielleicht dachte er ja, dieses Gewitter sei eine recht merkwürdige Laune der Natur. Endlich stieg er wieder in sein Auto, schaute in den Rückspiegel, kontrollierte, ob seine Zeitung noch auf dem Sitz neben ihm lag, betätigte den Blinker, schaute erneut in den Spiegel und fuhr los. Mein Leben war gerettet.
    Vier Tage später hörte die Firma auf, uns gratis Schnittchen und Bier zu schicken.
    Deshalb war es nun sehr wohltuend, ohne Furcht um das eigene Leben durch die verschlafenen Straßen Wappings zu laufen. Ich war nie ein Anhänger dieser drolligen Vorstellung, daß London im wesentlichen eine Ansammlung von Dörfern ist – haben Sie schon mal ein Dorf mit Überführungen, Gasometern, torkelnden Pennern und Blick auf den Post Office Tower gesehen? Doch zu meiner freudigen Überraschung fühlte man sich in Wapping wahrhaftig fast wie auf dem Land. Es gab viele kleine, verschiedene Geschäfte, und die Straßen hatten heimelige Namen: Cinnamon Street, Waterman Way, Vinegar Street, Milk Yard. Die Sozialwoh-nungssiedlungen wirkten fröhlich und behaglich, und die hoch aufragenden Lagerhäuser waren fast alle in schicke Wohnhäuser konvertiert worden. Beim Anblick von noch mehr roten Hochglanzstahlrohrbalkonen und dem Gedanken, daß diese einstmals stolzen Arbeitsstätten nun eingebildete Yuppies namens Selena und Jasper beherbergten, überlief es mich unwillkürlich, aber ich muß zugeben, sie haben einen gewissen Wohlstand in die Gegend gebracht und die Lagerhäuser zweifellos vor einem viel traurigeren Schicksal bewahrt.
    Bei den Wapping Old Stairs schaute ich mir den Fluß an und versuchte mir, natürlich ohne den geringsten Erfolg, auszumalen, wie solche alten Viertel im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert ausgesehen haben, als hier Arbeiter herumwuselten und sich auf den Kais die Fässer mit Spezereien und Gewürzen stapelten, die den umliegenden Straßen ihre Namen gaben. Noch 1960 arbeiteten mehr als 100000 Menschen in den Docks oder verdienten ihren Lebensunterhalt in den Zulieferbetrieben, und Docklands war immer noch einer der größten Häfen der Welt. 1981 waren alle Londoner Docks geschlossen. Nun war der Blick auf den Fluß in Wapping so friedlich und ruhig, als schaue man eine Landschaft von Constable an. Ich betrachtete den Fluß gewiß eine halbe Stunde lang und sah ein einziges Schiff vorbeifahren. Dann drehte ich mich um und machte mich auf den langen Rückweg zum Hazlitt’s .
     

Viertes

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