Reif für die Insel
wiedersehen. Ich hatte mich mit einem alten Freund und Kollegen verabredet und ging nun zur Chancery Lane, wo ich die U-Bahn nahm. Ich mag die U-Bahn sehr. Es hat etwas Surreales, ins Erdinnere zu tauchen und in einen Zug zu steigen. Dort unten herrscht eine eigene kleine Welt mit eigenen seltsamen Wind- und Wettersystemen, gespenstischen Geräuschen und öligen Gerüchen. Selbst wenn man so tief in die Erde hinabgestiegen ist, daß man ganz die Orientierung verliert und sich nicht wundern würde, einem Trupp verrußter Bergleute zu begegnen, die von der Schicht kommen, rumpelt und zittert doch immer noch ein Zug auf einer unbekannten Linie noch tiefer unten vorbei. Und all das geschieht in einer phantastischen Ruhe und Ordnung. Tausende von Menschen laufen über Treppen und Rolltreppen, steigen aus vollen Zügen ein und aus, gleiten mit wackelnden Köpfen in die Dunkelheit und sprechen nie, wie Gestalten aus Die Nacht der lebenden Toten.
Als ich auf dem Bahnsteig unter einer elektronischen Anzeigetafel stand, die verkündete, daß der nächste Zug nach Hainault in 4 Minuten eintreffen würde, widmete ich meine Aufmerksamkeit der grandiosesten aller zivilisierten Gesten, dem Londoner U-Bahnplan. Ein Werk der Vollkommenheit, im Jahre 1931 erschaffen von einem vergessenen Helden namens Harry Beck, einem arbeitslosen technischen Zeichner, der eins begriff: Unter der Erde ist es egal, wo man ist. Beck sah (und was war das für ein Geniestreich!): Solange die Bahnhöfe in der richtigen Reihenfolge gezeigt und die Linienkreuzungen deutlich dargestellt werden, konnte er den Maßstab nach Gusto verzerren, ja, ihn völlig vernachlässigen. Er zeichnete seinen Plan präzise und ordentlich wie einen elektrischen Schaltplan und erschuf damit ein gänzlich neues, imaginäres London, das nur wenig mit der geographischen Beschaffenheit der Stadt darüber gemein hat.
Ich verrate Ihnen einen lustigen Trick, den Sie an Leuten aus Neufundland oder Lincolnshire ausprobieren können. Bringen Sie sie zur Bank Station und sagen Sie ihnen, sie sollen nach Mansion House fahren. Wenn sie Becks Plan benutzen – und selbst Leute aus Neufundland verstehen ihn in Null Komma nichts –, nehmen sie natürlich wohlgemut die Central Line zur Liverpool Street, steigen dort in die Circle Line nach Westen und fahren noch fünf Stationen. Wenn sie dann in Mansion House ankommen und wieder auftauchen, stellen sie fest, daß sie sich nur sechzig Meter vom Ausgangspunkt befinden und Sie in der Zwischenzeit schön gefrühstückt und ein bissel eingekauft haben. Jetzt gehen Sie mit ihnen zur Great Portland Street und sagen Sie, Treffpunkt ist Regent’s Park (genau, dasselbe noch mal in Grün), und dann zur Temple Station mit Instruktionen, sich in Aldwych zu treffen. Da werden Sie Ihren Spaß haben! Und wenn Sie sie loswerden wollen, verabreden Sie sich mit ihnen am Bahnhof Brompton Road. Der ist 1947 geschlossen worden, Sie brauchen die Herrschaften also nie wiederzusehen.
Das beste am U-Bahnfahren ist, daß man die Orte über sich nie zu Gesicht bekommt. Man muß sie sich vorstellen. In anderen Städten sind die Bahnhofsnamen phantasielos und profan: Lexington Avenue, Potsdamer Platz, Third Street South. Aber in London klingen sie wildromantisch und verlockend: Stamford Brook, Turnham Green, Bromley-by-Bow, Maida Vale, Drayton Park. Da über einem ist gar keine Stadt, sondern ein Roman von Jane Austen! Man kann sich leicht einbilden, man gondelt unter einer halbmythischen Stadt aus einem goldenen vorindustriellen Zeitalter hin und her. Swiss Cottage ist keine verkehrsreiche Straßenkreuzung mehr, sondern ein Hexenhäuschen mitten in dem großen Eichenwald, der als St. John’s Wood bekannt ist. Chalk Farm besteht aus weiten offenen Feldern, wo heiteres Landvolk in braunen Kitteln Kalkhalme mäht und erntet. In Blackfriars singen Mönche in Kutten, der Oxford Circus wird von einer Zirkuskuppel überspannt, Barking ist gefährlich, da hecheln wilde Hundemeuten, White City ist ein ummauertes, turmbewehrtes Atlantis, ganz aus blendend weißem Elfenbein erbaut, und im Holland Park drehen sich die Windmühlen.
Gibt man sich freilich diesen kleinen Tagträumereien allzusehr hin, kann es passieren, daß einen die Dinge enttäuschen, wenn man wieder an die Oberfläche tritt. Als ich nun am Tower Hill ausstieg, gab es weder einen Turm noch einen Hügel.
Ich lief die gräßliche Straße namens The Highway entlang und sperrte angesichts all der Neubauten Mund
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