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Reif für die Insel

Reif für die Insel

Titel: Reif für die Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Konstruktion beschäftigte er bis zu 15000 Männer, und als es fertig war, hatte es, unter vielem anderen, eine fast fünfundsiebzig Meter lange Bibliothek und den größten Ballsaal in England, der 2000 Gästen Platz bot – ganz schön schräg, so was zu bauen, wenn man nie Gäste hat. Ein Labyrinth von Tunneln und Geheimgängen verband die Räume und verlief in beträchtlicher Länge ins Land hinein. Als »erwarte er einen Atomkrieg«, meinte einmal ein Historiker. Wenn der Herzog nach London mußte, ließ er sich in seiner Pferdekutsche einschließen und fuhr damit durch einen anderthalb Meilen langen Tunnel in die Nähe des Bahnhofs von Worksop. Dort wurde sie auf einen speziellen offenen Güterwagen geladen und rollte in der Hauptstadt, immer noch verplombt, zu seiner Residenz, Harcourt House.
    Als der Herzog starb, fanden seine Erben die überirdischen Zimmer ohne Möbel vor. Nur in einem Raum thronte mitten drin sein Nachtstuhl, während die Haupthalle rätselhafterweise keinen Boden mehr hatte. Die meisten Räume waren rosa gestrichen. Das eine Zimmer im oberen Stock, in dem der Herzog hauste, war bis zur Decke mit Hunderten grüner Kisten vollgepackt, und in jeder lag eine einzige dunkelbraune Perücke. Kurz und gut, den Mann kennenzulernen hätte sich gelohnt.
    Mit einer gewissen Ungeduld schlenderte ich also durch Worksop zum Clumber Park, einem angrenzenden National Trust-Besitz, und fand – das hoffte ich zumindest – den Weg zur Welbeck Abbey, die etwa drei, vier Meilen entfernt lag. Es war ein langer Marsch über einen schlammigen Waldpfad. Laut Wegbeschilderung lief ich auf dem »Robin Hood Way«, aber wie im Sherwood Forest fühlte ich mich nicht. Es war eher eine endlose Kiefernschonung, eine Art Baumschule. Sie wirkte übernatürlich still und leblos. Ein Ambiente, in dem man halbwegs erwartet, über eine locker mit Blättern bedeckte Leiche zu stolpern. Davor habe ich überhaupt immer Angst, denn dann würde mich die Polizei interviewen und mich sofort verdächtigen, weil ich Fragen wie: »Wo waren Sie am Nachmittag des Mittwoch, 3. Oktober, um 16 Uhr?« nicht beantworten könnte. Ich stelle mir immer vor, wie ich in einem fensterlosen Verhörraum schmore und sage: »Mal sehen, äh, ich glaube, vielleicht war ich in Oxford oder vielleicht auch auf dem Küsten weg in Dorset. Himmel, ich weiß es nicht.« Und im Handumdrehen hätten sie mich in Parkhurst oder sonstwo eingebuchtet.
    Es wurde immer seltsamer. Ein eigentümlicher Wind erhob sich in den Baumwipfeln, sie bogen sich und tanzten, doch unten am Boden war alles ruhig, bis dahin kam er nicht. Reichlich gespenstisch das Ganze. Dann kam ich durch eine steile Sandsteinschlucht, über deren Hänge sich knorrige Baumwurzeln rankten. Zwischen den Wurzeln waren Hunderte Inschriften sorgfaltig eingekratzt. Namen, Daten und hier und da ineinanderverschlungene Herzen. Die Daten umfaßten eine außergewöhnlich lange Zeitspanne: 1861, 1962, 1947, 1990. Wirklich, ein komischer Ort. Entweder war er sehr beliebt bei Liebespaaren, oder ein Paar war sehr lange zusammen gegangen.
    Kurz danach erreichte ich ein einsames Pförtnerhaus, dessen Dachfirst mit Pechnasen versehen war. Dahinter erstreckte sich ein offenes Feld mit stoppeligem Winterweizen und noch weiter dahinter, durch eine Baumreihe knapp sichtbar, gewahrte ich ein verwinkeltes grünes Kupferdach – Welbeck Abbey, hoffte ich. Ich ging am Rand des riesigen, matschigen Feldes entlang und brauchte bald eine Dreiviertelstunde, um mich bis zu einem befestigten Weg durchzukämpfen. Wähnte mich aber nun sicher am richtigen Ort, denn der Weg lief an einem schmalen verschilften See entlang, und laut meiner stets zuverlässigen Karte war das weit und breit das einzige Gewässer. Ich marschierte ungefähr eine Meile, dann landete ich vor einer ziemlich noblen Einfahrt neben einem Schild, »Privat – Zutritt verboten«. Ansonsten gab es keinen Hinweis, was dahinter lag.
    Einen Augenblick lang schwindelte mir geradezu vor Unentschlossenheit (übrigens, falls ich je geadelt werde, hätte ich gern den Namen Lord Schwindel vor Unentschlossenheit), doch dann beschloß ich, mich ein paar Meter hinter die Einfahrt hinaufzuwagen – nur soweit, damit ich wenigstens einen Blick auf das Gebäude erhaschen konnte, für das ich den weiten Weg auf mich genommen hatte. Gedacht, getan. Die Anlagen waren äußerst kunstvoll und peinlichst gepflegt, aber gut durch Bäume abgeschirmt, also ging ich noch ein Stückchen

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