Reif für die Insel
der Familie sechs Jahre zuvor die kostbare Kopie der Magna Charta aus dem Besitz der Kathedrale auf eine sechsmonatige Ausstellungstournee durch Australien mitgenommen, um Gelder aufzutreiben. Dem Independent zufolge hatten die australischen Besucher der Ausstellung in dem halben Jahr insgesamt magere 938 Pfund gespendet, was den Schluß nahelegt, daß die Australier entweder ungewöhnlich knickerig sind oder der gute alte Independent ein ganz kleines bißchen sorglos mit den Fakten umgeht. Wie dem auch sei, die Tour war ein finanzielles Desaster. Sie machte einen Verlust von mehr als 500000 Pfund – recht bedacht, ein happiger Betrag für vier Leute und ein Stück Pergament. Einen Großteil der Schulden hatte freundlicherweise die australische Regierung beglichen, doch die Kathedrale plagte sich immer noch mit einem Minus von 56000 Pfund herum. Zum Schluß ging der Dekan mit der Story an die Presse und verursachte einen Aufschrei der Empörung im Kapitel; der Bischof von Lincoln ließ die Angelegenheit untersuchen und befahl dem Kapitel zurückzutreten, das Kapitel weigerte sich, und nun war so ungefähr jeder auf jeden wütend. Und das seit sechs Jahren.
Als ich also die wunderschöne, ungeheuer große, hallende Kathedrale betrat, hatte ich ja sehr gehofft, daß Gesangbücher durch die Gegend flogen und im Querschiff Kirchenmänner ganz unziemlich miteinander rangen, doch es war alles enttäuschend ruhig. Ja, ich hatte sogar das Vergnügen, in dem Kirchengebäude kaum von einherschlurfenden Touristentrupps gestört zu werden. Angesichts der Horden, die Salisbury, York, Canterbury, Bath und so viele andere große Kirchen in England heimsuchen, mutet es wie ein kleines Wunder an, daß Lincoln immer noch relativ unbekannt ist. Man findet schwerlich einen architektonisch so majestätischen Bau, der offenbar nur wenigen Eingeweihten bekannt ist – mit Ausnahme Durhams vielleicht.
Das Hauptschiff war vollgestellt mit Metallpolsterstühlen. Das habe ich nie verstanden. Warum keine Holzstühle? In jeder englischen Kathedrale, die ich je gesehen habe, stehen mehr oder weniger unordentliche Reihen von Stühlen, die man zusammenklappen oder wegstapeln kann. Warum? Räumen sie die Stühle zum Volkstanz weg oder was? Ganz egal, wieso, sie sehen immer billig und in der sie umgebenden Pracht hoher, aufstrebender Gewölbe, Buntglasfenster und gotischer Maßwerke völlig fehl am Platze aus. Manchmal zerreißt es einem schier das Herz, in einem Zeitalter solch extremen Preisbewußtseins zu leben. Andererseits bemerkt man durch die modernen Entgleisungen erst recht, wie verschwenderisch man sich früher der Kunstfertigkeiten von Steinmetzen, Glasgießern und Holzschnitzern bediente und wie wenig man mit den Materialien geizte.
Ich wäre gern noch geblieben, aber ich mußte einen lebenswichtigen Termin einhalten. In Bradford gab es eine der – wie ich finde – aufregendsten cineastischen Darbietungen der Welt zu sehen. Am ersten Samstag jeden Monats zeigt Pictureville Cinema, das zu dem großen, allseits beliebten Museum of Photography, Film und Was-weiß-ich gehört, die Originalversion von This Is Cinerama. An keinem anderen Ort der Welt kann man dieses herrliche kinematographische Kunstwerk noch sehen, und dieser Tag nun war der erste Samstag des Monats.
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freute. Ich war schon ganz zappelig vor Angst, daß ich meinen Anschluß in Doncaster verpassen würde, und dann bibberte ich, daß ich den in Leeds nicht schaffte, aber ich erreichte Bradford überaus rechtzeitig – fast drei Stunden zu früh, was mich nun auch wieder leicht ins Zittern brachte, denn was macht man in Bradford, wenn man drei Stunden totzuschlagen hat?
Bradford hat die Rolle seines Lebens darin gefunden, jeden anderen Ort auf diesem Planeten im Vergleich besser abschneiden zu lassen, und es spielt sie sehr gut. Auf meiner gesamten Reise sollte ich keine Stadt erleben, der man deutlicher ansah, wie verzweifelt sie war. Nirgendwo bin ich an mehr leeren Geschäften vorbeigekommen, deren Fensterscheiben weiß überstrichen oder mit zerrissenen Plakaten für Popkonzerte in dynamischeren Gemeinwesen wie zum Beispiel Huddersfield und Pudsey bepflastert waren, oder an mehr Bürogebäuden mit »Zu Vermieten«-Schildern. Mindestens jeder dritte Laden im Stadtzentrum war leer, und der Rest krepelte auch nur noch vor sich hin. Bald nach meinem Besuch kündigte Rackham’s, das größte Kaufhaus dort, seine
Weitere Kostenlose Bücher