Reif für die Insel
baldige Schließung an. Das, was überhaupt noch an Leben existierte, hatte sich in einen charakterlosen Komplex namens Arndale Centre verzogen. (Und übrigens, warum heißen die Einkaufszentren aus den Sechzigern immer Arndale Centre?) Bradford schien einem tödlichen, irreversiblen Verfall preisgegeben zu sein.
Es war einstmals einer der großartigsten Komplexe viktorianischer Architektur weit und breit, aber jetzt würde man das kaum mehr erraten. En masse wurden die schönsten Häuser abgerissen, damit Platz war für neue, breite Straßen und Büroklötze mit angestrichenen Sperrholzinlets unter den Fenstern. Fast alles leidet unter dem gutgemeinten, aber stümperhaften Pfusch der Stadtplaner. Viele Hauptstraßen haben solche Zebrastreifen, die man in Etappen nimmt – auf der ersten schafft man es bis zu der Insel in der Mitte, dann wartet man Schulter an Schulter mit Unbekannten noch einmal lange, bevor man vier Sekunden bekommt, um auf die andere Seite zu sprinten –, was schon die einfachsten Besorgungen lästig macht, besonders wenn man diagonal auf die andere Seite hinüber will und an vier Ampeln warten muß, um eine Nettodistanz von 27 Metern zurückzulegen. Noch schlimmer, auf der Hall Ings und dem Princes Way wird der vom Schicksal gebeutelte Fußgänger in mehrere trostlose, bedrohliche Unterführungen gezwungen, die in große, runde Plätze münden und zum Himmel hin offen sind, aber immer im Schatten liegen und so schlecht entwässert werden, daß, habe ich gehört, während eines Platzregens schon einmal jemand ertrunken ist.
Es überrascht Sie sicher nicht, wenn ich Ihnen erzähle, daß ich mir über diesen planerischen Wahnsinn immer sehr viel den Kopf zerbrochen habe. Eines Tages holte ich mir aus der Bücherei von Skipton ein Buch mit dem Titel Bradford – Unsere Stadt von morgen oder so ähnlich. Es stammte aus den späten Fünfzigern oder frühen Sechzigern und enthielt jede Menge Schwarz-weiß-Perspektivzeichnungen von glitzernden Fußgängerzonen mit wohlhabenden, selbstbewußt einherschreitenden, Strichmännchen ähnlichen Gestalten und Bürogebäuden des Typus, der sich nun drohend über mir erhob. Und da begriff ich jäh und mit erstaunlicher Klarheit, was sie versuchten. Sie glaubten nämlich wirklich, sie bauten eine neue Welt – ein Großbritannien, in dem die düsteren, rußgeschwärzten Häuser und engen Straßen der Vergangenheit abgerissen und von sonnigen Plätzen, blitzblanken Bürogebäuden, Büchereien, Schulen und Krankenhäusern ersetzt würden, die durch buntgekachelte, unterirdische Wege miteinander verbunden wären, auf denen sich die Fußgänger ungefährdet vom vorbeifließenden Verkehr bewegen konnten. Alles sah hell und sauber und fröhlich aus. Es gab sogar Bilder von Frauen mit Kinderwagen, die auf den runden Plätzen unter freiem Himmel stehenblieben und ein Schwätzchen hielten. Dabei herausgekommen ist nun eine Stadt mit leeren, heruntergekommenen Bürohochhäusern, abschreckenden Straßen, Fußgängerabflußrohren und wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit. Das wäre vielleicht eh passiert, aber dann hätten wir wenigstens eine Stadt mit zerbröckelnden alten Häusern statt zerbröckelnden neuen gehabt.
Mit einer Geste, die ebenso zum Lachen wie zum Weinen ist, versuchen die Behörden heutzutage, ihren mageren Vorrat an alten Gebäuden zu promoten. In einer bescheidenen Ansammlung enger Straßen an einem Hang, der gerade weit genug vom Stadtzentrum entfernt war, daß er den Bulldozern entkam, stehen immer noch etwa drei Dutzend große, eindrucksvolle Lagerhäuser, die meisten zwischen 1806 und 1874 in einem selbstbewußten, klassizistischen Stil erbaut. Sie sehen eher aus wie Handelsbanken als Wollagerhallen, so daß die Gegend den Namen Little Germany erhielt. Früher gab es jede Menge solcher Viertel – ja die ganze Stadtmitte bestand noch bis in die fünfziger Jahre hinein so gut wie nur aus Lagerhäusern, Fabriken, Banken und Bürohäusern, die sich ausschließlich dem Wollhandel verschrieben hatten. Und dann – der Himmel weiß, warum – ging es mit dem Wollgeschäft einfach zu Ende. Die Fabriken verschwanden, die Büros wurden dunkel, die einst geschäftige Wollbörse verkümmerte zu einem staubigen Nichts, und man würde nun nie glauben, daß Bradford einmal groß und bedeutend war.
Von all den blühenden Wollvierteln der Stadt – Bermondsey, Cheapside, Manor Row, Sunbridge Road – haben nur ein paar Gebäude von Little Germany überlebt, und
Weitere Kostenlose Bücher