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Reif für die Insel

Reif für die Insel

Titel: Reif für die Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Plüschsitzen und einer großen, gewölbten Leinwand hinter Samtvorhängen. Ein paar Minuten sah es so aus, als hätte ich das Ding ganz für mich allein, aber dann kamen allmählich weitere Zuschauer, und zwei Minuten vor Beginn war es so gut wie voll.
    Punkt zwei Uhr wurde der Raum dunkel, der Vorhang öffnete sich ungefähr viereinhalb Meter – einen Bruchteil der gesamten Breite –, und über das bescheidene Stück Leinwand flimmerte ein Vorfilm mit Lowell Thomas (eine amerikanische Fünfziger-Jahre-Version von David Attenborough; er sah aber aus wie George Orwell), der in einem schamlos getürkten Arbeitszimmer voll Globetrotterobjekten saß und uns auf die Wunder, die wir gleich erschauen würden, vorbereitete. Gut, man muß es in seinem historischen Kontext betrachten. Cinerama wurde als verzweifelte Reaktion auf das Fernsehen geschaffen, das Hollywood Anfang der Fünfziger ratzfatz aus dem Geschäft zu werfen drohte. Dieser Vorfilm war also schwarz-weiß, wurde auf dem bescheidenen Rechteck in Form eines Fernsehbildschirms präsentiert und sollte eindeutig die Mahnung in unser Unterbewußtsein pflanzen, uns an solche Bildformate gar nicht erst zu gewöhnen. Nach einer kurzen, doch nicht uninteressanten Zusammenfassung der Geschichte des Films, sagte Thomas, wir sollten es uns bequem machen und das größte visuelle Spektakel genießen, das die Welt je gesehen hatte. Dann verschwand er, satte Orchesterklänge ertönten aus allen Ecken und Enden, die Vorhänge wurden, weit, weit zurückgezogen und enthüllten schließlich eine kolossale Leinwand, und wir waren auf einmal in einer knallbunten Welt, in einer Achterbahn auf Long Island, und Mann, war das gut!
    Ich war im siebten Himmel. Der 3-D-Effekt war viel besser, als ich von der einfachen, uralten Vorführanlage erwartet hätte. Es war wirklich, als säße man in einer Achterbahn, bloß mit einem einzigartigen Unterschied: Es war eine Achterbahn aus dem Jahre 1951, sie erhob sich hoch über Parkplätze voll Vorkriegs-Studebakers und -De Sotos und donnerte angsteinflößend an Menschenmengen in weiten Hosen und farbenprächtigen, schlabbrigen Hemden vorbei. Es war kein Film. Es war eine Zeitreise.
    Das meine ich wirklich. Die 3-D-Zauberei, der Stereoklang und die brillanten, gestochen scharfen Bilder warfen einen wie durch Magie vierzig Jahre zurück. Für mich schwang noch etwas Besonderes mit, denn im Sommer 1951, als diese Bilder gefilmt worden waren, lag ich im Bauch meiner Mutter eingerollt und nahm mit einer Geschwindigkeit zu, die ich erst wieder erreichen sollte, als ich fünfundreißig Jahre später aufhörte zu rauchen. Es war die Welt, in die ich hineingeboren wurde, und was schien sie doch hübsch, herrlich und vielversprechend gewesen zu sein.
    Ich glaube, drei so glückliche Stunden habe ich noch nie erlebt. Wir reisten durch die ganze Welt, denn This Is Cinerama war kein herkömmlicher Film mit einer Handlung, sondern ein Reisebericht über Dinge, anhand derer dieses Wunder des Zeitalters möglichst effektvoll zur Geltung kam. Wir glitten in Gondeln durch Venedig, wir lauschten vor Schloß Schönbrunn den Wiener Sängerknaben, erlebten einen Zapfenstreich am Edinburgh Castle und einen langen Ausschnitt aus der Aida in der Mailänder Scala (das war ein bißchen langweilig). Und zum Schluß machten wir einen Flug über ganz Amerika. Wir stiegen hoch über den Niagarafällen auf – da war ich im Sommer zuvor gewesen, aber das hier unterschied sich gewaltig von dem touristenverstopften, mit Aussichtstürmen und Hotels zugestellten Chaos, das ich besucht hatte. Diese Niagarafälle ergossen sich vor Bäumen und flachen Gebäuden und halbleeren Parkplätzen. Wir besuchten Cypress Gardens in Florida, flogen lange über die wogenden Felder im Mittleren Westen und erlebten eine aufregende Landung auf dem Flughafen von Kansas City. Dann preschten wir ganz niedrig über die Rockies, ließen uns in die atemberaubende, ungeheure Tiefe des Grand Canyon fallen und flogen weiter durch die gewaltigen, kurvigen Schluchten des Zion Nationalparks, wo das Flugzeug haarscharf an bedrohlichen Felsvor-sprüngen entlangsauste und Lowell Thomas verkündete, daß ein solches Kunststück noch nie im Film versucht worden sei. Dazu sang der Mormon Tabernacle Choir in Stereo »God Bless America«. Es begann mit einem melodischen Summen und schwoll an zu einem Crescendo aus vollen Kehlen so nach dem Motto: »Jetzt ziehen wir den Krauts das Fell über die Ohren.«
    Tränen

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