Reif für die Insel
berühmten Menschen aus Manchester nennen. Die Fülle an Statuen vor dem Rathaus weist eigentlich darauf hin, daß auch Manchester seinen Teil an großen Geistern hervorgebracht hat, aber die vielen Gehröcke und Backenbärte weisen ebenso darauf hin, daß es entweder aufgehört hat, Größen, oder aufgehört hat, Statuen zu produzieren. Ich schaute sie mir jetzt alle gründlich an und konnte mit keinem einzigen Namen etwas anfangen.
Daß ich kein sehr klares Bild von der Stadt habe, liegt nicht nur an mir. »Die Stadt von morgen – gestalten wir sie heute«, lautet zwar ihr offizielles Motto, aber sie kann sich eindeutig nicht entscheiden, wo ihr Platz in der Welt ist. In Castlefield ist man allerdings eifrig dabei, heute die Stadt von gestern zu erschaffen. Die Backsteinviadukte und Lagerhäuser sind gründlich geputzt und die alten Kais neu gepflastert worden. Den bogenförmigen Fußgänger-brücken hat man einen glänzenden neuen Anstrich verpaßt und allenthalben großzügig antikisierende Bänke, Poller und Laternenpfähle verstreut. Wenn alles fertig ist, kann man genau sehen, wie das Leben in Manchester im neunzehnten Jahrhundert war – das heißt, gewesen wäre, wenn es Weinstuben, schmiedeeiserne Abfallkörbe und Wegweiser für Museumspfade gegeben hätte. An den Kais von Salford wiederum ist man genau andersherum verfahren und hat alles getan, um die Vergangenheit auszulöschen: an der Stätte des einstmals blühenden Hafens am Manchester Ship Canal wurde einfach eine Art Mini-Dallas kreiert. Sehr abartig – mitten in einem weiten urbanen Niemandsland ein Haufen glasiger moderner Bürogebäude und Luxusapartments, die offenbar alle leer standen.
Das einzige, was man in Manchester nur mit Mühe findet, ist dasjenige, mit dem man doch eigentlich rechnet – reihenweise enge, kleine Coronation Streets. Angeblich gab es die in Hülle und Fülle, doch jetzt kann man meilenweit laufen, ohne eine einzige Backsteinhäuserreihe zu erblicken. Doch das macht nichts, man kann sich ja einfach die echte Coronation Street in den Filmstudios von Granada anschauen. Und das tat ich dann auch – in Gesellschaft aller Einwohner Nordenglands. An der Straße zu den Studios entlang gibt es weiträumige ungeteerte Auto- und Busparkplätze, und sogar um Viertel vor zehn morgends füllten sie sich schon. Busse von weit und fern – aus Workington, Darlington, Middlesborough, Doncaster, Wakefield, jeder nur denkbaren Stadt im Norden – spuckten Scharen rüstiger, weißhaariger Menschen aus, während aus den Autoparkplätzen ganze Sippen strömten, und alle waren fröhlich und guter Dinge.
Ich stellte mich in einer gut 130 Meter langen Schlange an, in der die Leute zu dritt oder zu viert nebeneinanderstanden, und fragte mich schon, ob das nicht ein Fehler war, doch als sich die Drehkreuze in Bewegung setzten, ging alles wie am Schnürchen, und innerhalb weniger Minuten war ich drin. Zu meiner großen und nachhaltigen Überraschung war es richtig toll. Ich hatte nur einen Spaziergang über den Coronation-Street-Set und eine rasche Führung durch die Studios erwartet, aber das Ganze war eine Art Vergnügungspark, und zwar ein richtig guter. Sie hatten so ein Motionmaster-Kino, wo die Sitze kippen und ruckeln und man meint, man würde durch den Weltraum geschleudert oder vom Rand eines Berges geschubst. In einem zweiten Kino setzte man eine Plastikbrille auf und schaute sich eine liebenswürdig schundige 3-D-Komödie an. Es gab eine unterhaltsame Demonstration von Soundeffekten, eine hinreißend makabre Schau mit Spezialeffekt-Make-up und eine lebhafte, höchst amüsante Debatte in einer Unterhaus-Kulisse, von einem Trupp jugendlicher Schauspieler in Szene gesetzt. Das alles war nicht nur perfekt gemacht, sondern auch sehr geistreich und originell.
Selbst nach zwanzig Jahren England bin ich immer wieder erstaunt und beeindruckt von der Qualität des Humors, dem man an den unwahrscheinlichsten Orten begegnet – dort, wo er in anderen Ländern einfach nicht vorkommen würde. Man findet ihn in den Sprüchen der Standbesitzer in der Petticoat Lane und in den Darbietungen von Straßenkünstlern – also Leuten, die mit brennenden Keulen jonglieren oder Kunststücke auf Einrädern vollführen und dabei die ganze Zeit Witze über sich und ausgewählte Leute aus dem Publikum reißen –, bei Weihnachtsspielen, in Kneipengesprächen und Begegnungen mit Fremden an einsamen Orten.
Ich kam zum Beispiel einmal in Waterloo Station an, wo
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