Reif für die Insel
nicht, daß er von ziemlich privilegierter Herkunft und Etonschüler war – betrachtete die arbeitenden Klassen wie wir heute vielleicht die Bewohner der Inselgruppe Yap als seltsames, aber interessantes anthropologisches Phänomen. In Wigan Pier erzählt er, was für eine Schrecksekunde er in seiner Jugend erlebte, als er sich in Gesellschaft einer Gruppe Arbeiter befand und Angst hatte, er müsse gleich aus der Flasche trinken, die sie herumgehen ließen. Seitdem ich das gelesen habe, hege ich hinsichtlich des alten George, offen gestanden, gewisse Zweifel. Bei ihm erscheint die Arbeiterklasse aus den Dreißigern wahrhaftig ekelerregend verdreckt, aber alles, was ich je gehört und gesehen habe, beweist, daß die meisten eher einen Sauberkeitsfimmel hatten. Mein Schwiegervater zum Beispiel wuchs in einer bettelarmen Umgebung auf und erzählte immer die grauslichsten Geschichten von Not und Entbehrung – Sie wissen schon, so in dem Stil: Vater bei Arbeitsunfall in der Fabrik draufgegangen, siebenunddreißig Geschwister, zum Abendessen nur Flechtenbrühe und ein Stück Dachschiefer außer sonntags, da gaben sie schon mal ein Kind in Zahlung und kauften für einen Penny Rüben. Sein Schwiegervater – aus Yorkshire – erzählte noch grauslichere Geschichten. Wie er 47 Meilen in die Schule gehopst war, weil er nur einen Schuh hatte und sich von einer Diät aus trockenen Brötchen und Rotzestullen ernährte. »Aber«, fügten sie unweigerlich stets hinzu, »wir waren immer sauber und das Haus pikobello.« Und man muß sagen, sie waren die peinlichst saubergeschrubbten Menschen, die man sich vorstellen kann, desgleichen ihre unzähligen Brüder und Schwestern und Freunde und Verwandten.
Zufallig habe ich mich auch vor nicht allzulanger Zeit mit Willis Hall, dem Autor und Stückeschreiber (und obendrein überaus netten Menschen), unterhalten, und irgendwie kamen wir auf dieses Thema zu sprechen. Hall ist – arm – in Leeds aufgewachsen, und er bestätigte prompt, daß die Häuser zwar karg eingerichtet und die Lebensbedingungen hart waren, es aber auch nirgendwo nur das kleinste Staubkörnchen gegeben hatte.
»Als meine Mutter nach dem Krieg eine neue Wohnung bekam«, erzählte er mir, »schrubbte sie das alte Haus am letzten Tag von oben bis unten, bis es glänzte, obwohl sie wußte, daß es am nächsten Tag abgerissen wurde. Sie konnte den Gedanken, es schmutzig zu hinterlassen, einfach nicht ertragen – und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, niemand in dem Viertel fand das eigenartig.«
Obwohl Orwell ja dauernd seine Sympathien für die Massen bekundet, würde man sie nach Lektüre seiner Texte höherer intellektueller Leistungen nicht für fähig halten, und dennoch brachte schon ein einziges Viertel in Leeds so bedeutende Persönlichkeiten wie Keith Waterhouse und Peter O’Toole hervor, und ich weiß von einem ähnlich bettelarmen Bezirk in Salford, aus dem der Maler Harold Riley kam, und dergleichen hat sich sicher unzählige Male im ganzen Land wiederholt.
Orwell malte ein Bild solch entsetzlichen Elends, daß ich selbst jetzt, als wir über einen langen Hügel nach Wigan fuhren, noch überrascht war, wie adrett und gut erhalten es zu sein schien. Ich stieg aus, freute mich, wieder an der frischen Luft zu sein, und begab mich auf die Suche nach dem berühmten Pier. Wigan Pier ist ein interessantes Wahrzeichen, doch – ein weiterer Grund, hinsichtlich der reporterischen Fähigkeiten des alten George Vorsicht walten zu lassen – nachdem Orwell ein paar Tage in der Stadt verbracht hatte, kam er zu dem Schluß, der Pier sei abgerissen worden (Paul Theroux in Kingdom by the Sea übrigens auch). Ich lasse mich gern eines Besseren belehren, aber finden Sie es nicht auch ein wenig komisch, ein Buch mit dem Titel Der Weg nach Wigan Pier zu schreiben, ein paar Tage in der Stadt zu verbringen und nicht einmal auf die Idee zu kommen, zu fragen, ob der Pier noch steht?
Wie dem auch sei, heute können Sie ihn nicht verpassen, denn an allen Ecken und Enden weisen Wegweiser auf ihn hin. Der Pier – in Wirklichkeit bloß ein alter Kohleschuppen am Leeds-Liverpool-Canal – ist (selbstverständlich) zu einer Touristenattraktion restauriert worden und enthält ein Museum, einen Geschenkeladen, eine Imbißstube und ein Pub, das, offenbar, ohne daß es ironisch gemeint ist, The Orwell heißt. Ich hatte Pech, es war freitags geschlossen, und ich mußte mich damit begnügen, darum herumzuwandern und durch die Fenster des
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