Reif für die Insel
ein einziges Chaos herrschte, weil auf der Straße nach Clapham Junction ein Brand ausgebrochen und der Bahnverkehr unterbrochen war. Ungefähr eine Stunde lang blieben Hunderte von Menschen mit unglaublicher Geduld und eiserner Ruhe stehen und betrachteten eine leere Anzeigetafel. Hin und wieder ging das Gerücht durch die Menge, daß gleich ein Zug vom Bahnsteig 7 abfahren würde, und dann tigerten alle los, nur um an der Schranke ein neues Gerücht zu hören, daß nämlich der Zug in Wirklichkeit von Bahnsteig 16 oder eventuell auch 2 abfahren würde. Nachdem ich schließlich die meisten Bahnsteige des Bahnhofs besucht und in etlichen Zügen gesessen hatte, die nirgendwohin fuhren, fand ich mich im Gepäckwagen eines Schnellzugs wieder, der angeblich in Kürze nach Richmond fuhr. In dem Wagen befand sich ein weiterer Fahrgast: Ein Mann im Anzug saß auf einem Haufen Postsäcke. Er hatte einen dichten roten Bart – man hätte eine Matratze damit ausstopfen können – und den lebensmüden Blick dessen, der jeglicher Hoffnung entsagt hat, je wieder nach Hause zu kommen.
»Sind Sie schon lange hier?« fragte ich.
Nachdenklich stieß er die Luft aus. »Sagen wir mal so: Als ich hier reinkam, war ich sauber rasiert.« Ich liebe es.
Witz und besonders der trockene, ironische, sich gegenseitig verarschende Witz ist ein so fundamentaler Bestandteil des täglichen Lebens in Großbritannien, daß man es kaum noch merkt. Erst am Vortag hatte ich in Skipton um eine einfache Fahrkarte nach Manchester mit Quittung gebeten. Der Mann am Schalter händigte sie mir mit den Worten aus: »Die Fahrkarte ist gratis … aber die Quittung kostet 18,50 Pfund.« Hätte er das in Amerika gesagt, hätte der Kunde sich empört: » Was? Was sagen Sie da? Die Fahrkarte ist gratis, aber die Quittung kostet 18,50 Pfund? Was ist denn das für eine hirnverbrannte Regelung?« Wenn es in Disneyland eine Unterhausdebatte gegeben hätte, wäre sie bierernst, läppisch, furchterregend konkurrenzmäßig und in drei Minuten vorüber gewesen. Die Schauspieler auf beiden Seiten des Parlaments wären lediglich zutiefst, wenn auch kurz, darum besorgt gewesen, die besten zu sein. Hier lief es so überkandidelt, daß auch nicht die entfernteste Möglichkeit bestand, daß überhaupt jemand gewann. Es sollte nur allen Spaß bringen, und es war auch so lustig und klug gemacht, daß ich es kaum aushalten konnte. Und mir wurde ganz flau, weil ich wußte, daß ich es sehr vermissen würde.
Überhaupt nicht komisch ging es freilich in der Coronation Street zu. Das kommt daher, daß es für Millionen von uns eine quasi religiöse Erfahrung ist. Ich mag Coronation Street deshalb so sehr, weil es eine der ersten Serien war, die ich im britischen Fernsehen gesehen habe. Natürlich hatte ich keinen Schimmer, was ablief. Ich kapierte nicht die Hälfte dessen, was die Figuren sagten, oder warum sie alle Chuck hießen. Aber komisch, ich war sofort gefesselt. Wo ich herkam, handelten Soap-Operas immer von reichen, skrupellosen, enorm erfolgreichen Menschen mit 1500-Dollar-Anzügen und Büros hoch oben in häßlichen Wolkenkratzern, und die Hauptfiguren wurden immer von Schauspielerinnen und Schauspielern gespielt, die, vor die Wahl gestellt, schauspielern zu können oder wirklich tolles Haar zu haben, sich immer für das Haar entschieden hätten. Und in dieser erstaunlichen Serie wohnten ganz normale Leute in einer ganz normalen Straße im Norden Englands, sprachen eine Sprache, die ich kaum verstand, und taten eigentlich nie viel. Noch vor der ersten Werbepause war ich der Sendung rettungslos verfallen.
Dann wurde ich, brutal, wie das Leben so spielt, zu abendlichem Arbeiten in der Fleet Street gezwungen und abtrünnig. Mit dem Ergebnis, daß ich heutzutage nicht mal mehr ins Zimmer darf, wenn Coronation Street läuft, denn ich frage die ganze Zeit:
»Wo ist Ernie Bishop? Wer ist denn das? Stan Ogden ist tot? «
Nach einer Minute werde ich hinausgescheucht. Aber nun entdeckte ich in den Studios, daß es, selbst wenn man Coronation Street jahrelang nicht gesehen hat, trotzdem herrlich ist, auf dem Set herumzulaufen, weil es selbige Straße ist. Es ist auch der echte Set. (Wenn sie montags dort filmen, schließen sie den Park.) Man meint, man sei in einer richtigen Straße. Die Häuser sind echt, aus echten Backsteinen. Enttäuscht war ich nur, als ich wie alle anderen durch die Ritzen in den Gardinen linste und sah, daß es leere Gemäuer und innen drin nur Stromkabel
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