Reise im Mondlicht
gesehen.«
Mihály senkte den Kopf. Er spürte, wie sehr es Erzsi schmerzte, daß er Éva liebte, aber was konnte er sagen, wie konnte er
gutmachen, was stimmte und nicht zu ändern war?
»Ja, Erzsi. Es ist recht, daß du das weißt. Du kennst auch die Vorgeschichte. In Ravenna habe ich dir alles erzählt, was man
von mir wissen kann. Es ist alles so gekommen, wie es kommen mußte. Wenn es nur für dich nicht so schlimm wäre …«
»Laß das bitte. Ich habe mit keinem Wort gesagt, daß es für mich schlimm ist. Es geht wirklich nicht darum. Aber hör mal … weißt du, wer diese Frau ist? Was sie bisher für ein Leben geführt hat?«
»Nein. Ich habe ihr nie nachgeforscht.«
»Mihály, dein Phlegma hat mich immer erstaunt, aber du beginnst dich selbst zu übertreffen. So etwas habe ich noch nie gehört,
daß jemand in eine Frau verliebt ist und nicht wissen will, was sie für eine ist …«
»Weil mich nur interessiert, was sie damals für eine gewesen ist, im Ulpius-Haus.«
»Dann weißt du vielleicht auch nicht, daß sie nicht mehr lange hierbleibt? Sie hat sich einen jungen Engländer geangelt, der
sie mit nach Indien nimmt. Sie fahren in den nächsten Tagen.«
»Das ist nicht wahr.«
»Doch. Schau.«
|214| Sie nahm aus ihrer Handtasche noch einen Brief. Mit Évas Schrift. Der Brief war an János adressiert und enthielt einen kurzen
Bericht über Évas bevorstehende Indienreise sowie die Versicherung, daß sie nicht die Absicht habe, je nach Europa zurückzukommen.
»Das hast du auch nicht gewußt?« fragte Erzsi.
»Du hast gewonnen«, sagte Mihály. Er stand auf, bezahlte und ging hinaus. Seinen Hut ließ er liegen.
Draußen torkelte er eine Weile benommen umher, beide Hände auf das Herz gepreßt. Erst nach langer Zeit merkte er, daß Erzsi
neben ihm herging, mit seinem Hut in der Hand.
Sie war jetzt ganz anders, demütig, erschrocken, die Augen voller Tränen. Die großgewachsene, würdevolle Dame war fast rührend,
wie sie da stumm und mädchenhaft mit seinem Hut neben ihm hertrottete. Mihály mußte lächeln und nahm ihr den Hut aus der Hand.
»Danke«, sagte er und küßte Erzsi die Hand. Erzsi strich ihm ängstlich über die Wange.
»Wenn du in deiner Handtasche keine weiteren Briefe hast, dann laß uns doch zum Abendessen gehen«, sagte er seufzend.
Während des Essens sprachen sie wenig, aber vertraulich und zärtlich. Erzsi war voll guten Willens, Mihály wurde durch den
Schmerz und durch den aus diesem Grund in großen Mengen konsumierten Wein in eine weiche Stimmung versetzt. Er grübelte darüber,
wie sehr ihn Erzsi immer noch liebte, und wie glücklich er wäre,sie lieben und sich von der Vergangenheit und den Toten befreien
zu können.Doch er wußte,daß das nicht möglich war. »Erzsi, ich bin im Grunde meines Herzens an der Sache zwischen uns ganz
unschuldig«, sagte er. »Ich weiß, das sagt sich so leicht. Aber du hast ja gesehen, wie ich jahrelang alles getan habe, um
mich anzupassen, und als ich dachte, jetzt sei alles in Ordnung, jetzt hätte ich mit der Welt Frieden geschlossen, da habe
ich dich geheiratet, zu meiner Belohnung. Und da sind sämtliche Dämonen über mich hergefallen, meine ganze Jugend, meine ganze
Nostalgie, die ganze Rebellion. Gegen die Nostalgie gibt es keine Medizin. Vielleicht hätte ich nicht nach Italien kommen
dürfen. |215| Italien ist das irdische Paradies, aber nur auf die Art, wie es Dante sah. Das irdische Paradies ist auf dem Gipfel des Purgatoriumsbergs
und bloß ein Übergangszustand, bloß ein Flugplatz zum Jenseits, von wo die Seelen zu fernen himmlischen Gefilden aufbrechen,
wenn Beatrice ihren Schleier abwirft und die Seele ›der alten Minne große Macht spürt‹…«
»Ach, Mihály, die Welt duldet nicht, daß man sich der Nostalgie überläßt.«
»Nein, das tut sie nicht. Die Welt duldet überhaupt kein Abweichen von der Norm, keine Flucht und keinen Widerstand, und früher
oder später läßt sie die Zoltáns auf einen los.«
»Und was willst du tun?«
»Das weiß ich nicht. Was sind deine Pläne, Erzsi?«
»Ich fahre nach Paris zurück. Jetzt haben wir alles besprochen. Morgen früh fahre ich.«
Mihály bezahlte und begleitete Erzsi zum Hotel.
»Ich würde so gern wissen, daß es dir gutgehen wird«, sagte er unterwegs. »Sag etwas Tröstliches.«
»Es geht mir gar nicht so schlecht, wie du glaubst«, sagte Erzsi mit einem ungespielt hochmütigen und zufriedenen Lächeln.
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