Reise in die arabische Haut
selten in unseren Briefkasten. Wir wohnen in einem langangelegten Plattenbau mit unzähligen Wohnungen und einer Briefkastenanlage mit vierzig Postfächern. In unserer Mietskaserne gibt es eine Familie, die »Sen Amora« heißt. Üblicherweise landen in unserem Postfach oftmals Briefsendungen für Sen Amora, während Sen Amoras Briefkasten unsere Post beherbergt. Ich schichte die inkorrekt gelieferten Zuschriften sofort in den richtigen Postkasten um. Blöderweise sind die Sen Amoras weniger kulant als ich. In ihrem Fach landet oft Korrespondenz für uns, die wir verspätet oder überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Alle fünf Tage steht Frau Sen Amora vor unserer Wohnungstür und berichtet mir, dass der Briefträger nicht lesen könne. Unsere Post sei wiederholt in ihre Hände gelangt, aber ich solle mir keine Sorgen machen. Sie öffne noch am gleichen Tag die Briefe, um zu schauen, ob sie bedeutsam seien. Irrelevante Werbesachen entsorge sie sofort in den Altpapierbehälter, aber essentielle Drucksachen überbringe sie leibhaftig.
Vom Briefgeheimnis hält Frau Sen Amora nicht viel. Durch meine Namensänderung habe ich großen Stress mit dieser Dame.
Warum fand ich es chic, Ben Amor zu heißen? Mein Geburtsname Brinker ist zwar bodenständiger, aber katastrophal langweilig. Darum eben.
Eine reizende Familie
Das Taxi hupt dreimal kurz. Ehe wir einen Fuß auf Ben Amors Areal setzen, wackelt das Portal. Heraus quellen zwei ältere Damen, vier jüngere Frauen und vier Kinder.
Jadda, meine Schwiegeroma, klappert mit dem Zungenschlag. Meine Schwiegermutter, die Walda, stimmt mit ein. Ein hoher Gesang direkt aus dem Herzen. Ein Zeichen, dass wir gern gesehen sind.
Walda reißt schwungvoll ihr um den Bauch gebundenes, kariertes Küchenhandtuch ab, wirft es über die Schulter und kommt in einem grünen Samtkleid auf mich zu. Während sie mein Gesicht mit warmen Küssen befeuchtet, verfange ich mich mit den Händen in ihrem Schleier, der knapp vier Zentimeter vom Schädel rutscht. Entsetzt beendet sie die pitschige Knutscherei und zieht ihr Kopftuch über die rotgefärbten Haare.
Genauso rapide, wie sie mich ansprang, hängt sie an Khalids Hals. Meine Schwägerinnen Shirin, Alisha, Jamila und Nayla begrüßen mich mit Küsschen links und Küsschen rechts. Außer Nayla sind meine Schwägerinnen europäisch angehaucht. Sie tragen enge Jeans und darüber knielange bunte Röcke. Die Pullover und Kopftücher passen zwar farblich nicht zur Beinkleidung, aber das tut dem Stil keinen Abbruch. Die drei Grazien schillern orientalisch wie drei farbenfrohe Pfauen.
Die vierte Frau trägt einen blutroten Morgenmantel.
»Wer ist die Frau in Rot?«
»Nayla, die Frau meines Bruders«, hechelt Khalid zwischen Waldas Aqua-Küssen.
Seit dieser Zeit nenne ich Nayla, wenn ich von ihr spreche, die Frau in Rot, weil der rote Morgenmantel sie Tag für Tag als Winterfell wärmend einhüllt. Lady in red. Beautiful.
Der Bademantel bringt viele Vorteile in den arabischen Alltag. Er hält warm und die Tunesierinnen haben eine Garnitur Frauenkleidung weniger zu waschen.
Mich stört kein Morgenmantel. Mich nervt kein Rock über der Jeans. Das Einzige, was mich irritiert, sind die Schleier, die die Haare meiner weiblichen Verwandtschaft verdecken.
Ich ahne, dass meine neue Familie ultrakrass religiös ist.
Die Kleinkinder spielen auf der Straße Ringelreihen und interessieren sich nicht für die deutsche Verwandtschaft.
Jadda steht im bunten Glockenrock mit zerknitterter Bluse am Tor und klopft mit ihrer Krücke demonstrativ auf die Steine. Trotz ihrer Gehstörung hilft ihr niemand, die Treppe hinunterzusteigen. Als alle Frauen des Hauses sich Khalid zuwenden, um sämtliche Neuigkeiten auszutauschen, springe ich Stufe für Stufe zu Jadda empor. Sie lässt die Krücke auf der Treppe hinuntersausen, umfasst mich mit ihren wabbeligen, weichen Armen und säuselt mir Gesang plus Spucke ins Ohr. Befreiung unmöglich.
Erst als Khalid mich aus ihren Armen zerrt, atme ich durch.
Wir gehen durch das Tor und stehen erneut vor einer fünfstufigen Treppe. Jadda humpelt Stiege für Stiege hoch. Wir anderen folgen ihr im Lahmarschschritt. Jadda erfüllt alle Vorgaben zum Modell für Übergrößen.
Ich hoffe nicht, dass sie rückwärts herunterpoltert, das gäbe unweigerlich Tote hier.
Der quadratisch steinige Innenhof erscheint mir wie ein Haremsgarten. Wilder Wein rankt an einer Mauer empor. Die strahlende Sonne wirft faszinierende Schattenbilder
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