Reise nach Genf
Wenn er hier schlief, dann muß er doch hierhergekommen sein, um seine Sachen zu packen, wenigstens Wäsche und Hemden und so …«
»Nichts. Es ist alles noch da. Sie können es besichtigen.«
»Das möchte ich gern.«
Sie sah mich an, nickte dann und bemerkte: »Glauben Sie im Ernst, daß Sie einen Hinweis finden? Ich habe die Sachen schon mehr als einmal durchsucht, jede Hosentasche gefilzt: Nichts.«
»Paßt es zu Paolo, alles hierzulassen? Paßt es zu ihm, ohne ein Wort zu gehen, ohne sein Lieblingshemd?«
»Nein. Er war ein theatralischer Junge, er liebte die großen, wilden Gesten. Wenn ihn etwas gezwungen hätte, Genf zu verlassen, hätte er erst einmal nach meiner Schulter verlangt, um sich auszuweinen.« Sie lächelte versonnen.
Das Zimmer Paolos war etwa vier mal vier Meter groß. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, eine Sesselecke, Radio, Fernseher, Video. Das alles sehr solide, gediegen und teuer.
»Es kann nicht daran gelegen haben, daß er mir nicht begegnen wollte. Denn er hätte sich nicht zu beeilen brauchen. Ich höre nachts um zwei Uhr in der Bar auf. Er hatte also nach seiner Schicht um Mitternacht noch mindestens zwei Stunden Zeit gehabt, um in Ruhe einzupacken und zu verschwinden.«
Sie ging vor mir her in den luxuriösen Wohnraum zurück und setzte sich wieder. »Es gibt an diesem Tag einiges, das auffällt. Zum Beispiel wie gesagt, daß er keine Zeitung kauft, keinen Kaffee trinkt …«
»Kam er denn früher wie gewöhnlich im ›Beau Rivage‹ an?«
»Nein, eben nicht. Er kam pünktlich, so gegen drei Minuten vor zwölf. Ich weiß nicht, was er in der Stunde vorher tat, ich weiß nicht, wo er war.«
»Seien Sie ehrlich, Sie haben überlegt, ob er, Paolo, es war, der den Hotelcomputer manipulierte.«
»Ja, das habe ich. Er verschwand so plötzlich, daß es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder er wurde getötet, oder aber er mußte von einer Sekunde auf die andere fliehen. Beide Möglichkeiten deuten …«
»… eindeutig auf Watermann«, unterbrach ich sie.
»Ja«, sie nickte. »Wenn ich das alles richtig verstanden habe, dann war Watermann, ehe man ihn tot in der Badewanne fand, stundenlang allein. Aber irgendeiner muß bei ihm gewesen sein, denn die letzten beiden Tabletten, die man in seinem Magen fand, hat er nicht mehr nehmen können, weil er längst bewußtlos war. Also muß jemand dagewesen sein, jemand vom Personal, ein Besucher des Hotels, jemand von den Gästen, Paolo vielleicht. Wenn er etwas Wichtiges gesehen hat oder eine wichtige Person, dann …«
»Dann hat man ihn getötet«, sagte ich. »Aber wieso fand man seine Leiche nicht? Ist überhaupt danach gesucht worden?«
»Die Polizei gab Suchmeldungen heraus, jeder Polizist in der Schweiz kannte Paolos Gesicht.«
»Paolo war nicht sein Name, auch der Familienname Maggia stimmte nicht.«
»Nein. Aber ich weiß, daß Paolo vorbestraft war. Das hat er mir selbst erzählt. Er ist in München in eine Drogengeschichte geschliddert. Er saß acht Monate.«
»In München?«
»Ja. Ich habe ihn oft gefragt, wie er wirklich heißt, aber er lachte dann nur und sagte, das sei doch nicht wichtig.«
»Hat er irgendwann einmal erklärt, weshalb er unter einem falschen Namen lebt?«
»Ja. Er hat den Paß und alle Papiere gekauft, weil er neu anfangen wollte. Er sagte: Wenn ich als vorbestrafter Italiener irgendwo in Europa Arbeit will, kriege ich keine. Das war alles sehr logisch.«
»Er sprach also italienisch?«
»Ja, perfekt italienisch, ziemlich gut französisch, sehr gut englisch, perfekt deutsch. Er war für das ›Beau Rivage‹ ideal, und alle seine Kollegen mochten ihn. Vor der Polizei konnte ich nicht gut zugeben, daß ich von den falschen Papieren wußte, also habe ich die Vorstrafe in München auch nicht erwähnt.«
»Soweit ich aus den Protokollen weiß, wurde Watermann etwa um zwölf Uhr fünfundvierzig gefunden. Ist zu rekonstruieren, zu welchem Zeitpunkt Paolo verschwand?«
»Genau kann man das nicht nachhalten. Als die Polizei ins Hotel kam, war Paolo entweder noch da oder nicht. Da niemand zunächst nach ihm fragte, ist das nie klar geworden. Aber um achtzehn Uhr muß er noch im Hotel gewesen sein. Ich rief ihn nämlich von hier aus an. Er sagte mir etwas von diesem toten Ministerpräsidenten. Er sagte: Die Bullen reden von Selbstmord, als käme Mord nicht in Frage. Er ist also irgendwann nach achtzehn Uhr an diesem Sonntag verschwunden …«
»Das kann doch auch heißen, daß …«
»O ja«, sagte
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