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Reise nach Ixtlan.

Reise nach Ixtlan.

Titel: Reise nach Ixtlan. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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die Gewohnheiten der Tiere in der Wüste beobachtet. Sie fressen und trinken an bestimmten Plätzen, sie bauen an bestimmten Plätzen ihr Nest, sie hinterlassen auf bestimmte Art ihre Spuren. Tatsächlich kann ein guter Jäger alles, was sie tun, vorhersehen oder rekonstruieren.
    Wie ich dir schon sagte, verhältst du dich meiner Meinung nach wie deine Beute. Einmal in meinem Leben hat auch mir jemand dasselbe gesagt. Du bist also in dieser Hinsicht nicht einmalig. Wir alle verhalten uns wie die Beute, der wir nachstellen. Das macht uns natürlich auch zur Beute für jemand oder etwas anderes. Nun muß ein Jäger, der all dies weiß, sich darum bemühen, nicht mehr selbst Beute zu sein. Siehst du nun, was ich meine?« Wieder brachte ich meine Meinung zum Ausdruck, daß sein Vorschlag undurchführbar sei.
    »Es braucht Zeit«, sagte Don Juan. »Du kannst damit beginnen, daß du nicht jeden Tag um Schlag zwölf zu Mittag ißt.«
    Er sah mich an und lächelte wohlwollend. Seine Miene war sehr spaßig und brachte mich zum Lachen. »Es gibt bestimmte Tiere, die sich nicht fangen lassen«, fuhr er fort.
    »Zum Beispiel gibt es bestimmte Arten Rehe, denen ein Jäger vielleicht durch bloßes Glück einmal im Leben begegnet.«
    Don Juan machte eine dramatische Pause und sah mich durchdringend an. Er schien auf eine Frage zu warten, aber mir fiel keine ein.
    »Wodurch, glaubst du, sind sie so schwer aufzuspüren und so einzigartig?« fragte er. »Ich zuckte mit den Schultern, denn ich wußte nichts zu sagen. »Sie haben keine Routine«, sagte er im Ton einer Offenbarung. »Das ist es, was sie zu magischen Wesen macht.«
»Ein Reh muß nachts schlafen«, sagte ich. »Ist das keine Routine?«
»Gewiß, wenn das Reh jede Nacht zu einer bestimmten Zeit, an seinem bestimmten Ort schläft. Aber diese magischen Wesen tun das nicht. Vielleicht wirst du es eines Tages feststellen. Vielleicht wird es dein Schicksal sein, den Rest deines Lebens eines von ihnen zu jagen.«
»Was meinst du damit?«
    »Du liebst die Jagd; vielleicht wird dein Weg eines Tages irgendwo in der Welt den Weg eines magischen Wesens kreuzen, und du wirst ihm nachstellen. Einem magischen Wesen zu begegnen, ist ein unvergeßliches Erlebnis. Ich selbst hatte das große Glück, einem über den Weg zu laufen. Unsere Begegnung fand  statt, nachdem ich viel über die Jagd gelernt und mich darin geübt hatte. Eines Tages war ich in einem dichten Wald in den Bergen von Zentralmexiko, als ich plötzlich ein leises Pfeifen hörte. Ich kannte es noch nicht. Nie in all den Jahren, in denen ich die Wildnis durchstreift hatte, hatte ich einen solchen Klang gehört. Ich konnte ihn nicht lokalisieren; er schien von verschiedenen Stellen auszugehen. Ich glaubte, daß ich vielleicht von einem Rudel irgendwelcher unbekannter Tiere umgeben sei. Noch einmal hörte ich das durchdringende Pfeifen. Es schien von überallher zu kommen. Plötzlich wurde mir bewußt, was für ein Glück ich hatte. Ich wußte, es war ein magisches Wesen, ein Reh. Ich wußte auch, daß ein magisches Reh die Routine normaler Menschen und die Routine der Jäger kennt. Man kann sich sehr einfach vorstellen, was ein normaler Mensch in einer solchen Situation macht. Zunächst verwandelt ihn seine Angst auf der Stelle in eine Beute. Und ist er zur Beute geworden, so bleiben ihm nur zwei Möglichkeiten, zu handeln. Entweder er flieht, oder er behauptet sich. Wenn er nicht bewaffnet ist, dann wird er normalerweise aufs offene Feld fliehen und um sein Leben laufen. Ist er bewaffnet, dann wird er seine Waffe bereithalten und den Platz behaupten, entweder, indem er auf der Stelle erstarrt, oder, indem er sich zu Boden fallen läßt.
    Ein Jäger in der Wildnis hingegen wird nie irgendwohin gehen, ohne zunächst die Punkte auszumachen, die ihm Schutz bieten können, daher würde er sofort in Deckung gehen. Er würde zum Beispiel seinen Poncho als Köder auf den Boden werfen oder über einen Ast hängen, dann würde er sich verstecken und darauf warten, daß das Wild den nächsten Schritt tut. Nun, in der Gegenwart des magischen Rehs tat ich weder das eine noch das andere. Ich machte schnell einen Kopfstand und begann leise zu jammern; mir liefen tatsächlich die Tränen, ich weinte so lange, daß ich einer Ohnmacht nahe war. Plötzlich spürte ich einen sanften Hauch; irgend etwas schnupperte an meinem Haar hinter dem rechten Ohr. Ich versuchte, meinen Kopf zu wenden, um zu sehen, was es sei, und dabei fiel ich um und

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