Reise zum Rand des Universums (German Edition)
der Welt. (Klarerweise war er das Vorbild für meine hitzigen Phantasien im Kopf.)
Am Morgen, bevor die Post kam, formierte sich ganz von selber und ohne jede Absprache ein kleiner Trupp – Papi, Nora, ich –, der im Gänsemarsch vor dem Haus vorbei, am Pingpongsaal, über die Brücke, über die Straße zum Hotel ging, in dem auch das Postamt war, das aus einer kleinen Kammer mit einem Schalter zum Hotelkorridor hin bestand und das Reich der Wirtin war. Frau Isepponi, die alle Schura Fausta nannten. Frau Fausta. Schura Fausta nahm jeden Morgen den Postsack entgegen, den ihr der Mädchenschänder in spe in die Hand drückte, mit einem Scherz, den nur die beiden verstanden, denn sie sprachen jenen herrlich unverständlichen Dialekt. Lauter Üs und Ös, und das auf Italienisch. Dazu lachten sie, Schura Fausta ohne Zähne und der Postautofahrer, ohne das Streichholz, auf dem er immer herumbiss, aus dem Mund zu nehmen. – Dann warteten mein Vater, Nora und ich eine weitere halbe Stunde und sahen durch das Fensterglas der Schalteröffnung, wie Schura Fausta die gesamte Post aller Bewohner von La Rösa las, auch unsere. (Später einmal schrieben wir aus Riehen eine Postkarte an eine meiner Tanten und grüßten Frau Isepponi, »falls sie das liest«. Sie antwortete postwendend und bedankte sich für die Grüße.) – Wie schon im Lötschental machte mein Vater achtzig Prozent des Umsatzes, und das Postamt wurde nur deshalb nicht geschlossen, weil an dem Tag, an dem die Verwaltung der PTT in Chur seine Tätigkeit überprüfte – das Datum sickerte jedes Jahr ein paar Tage vorher durch –, mein Vater Dutzende von Briefen und auch ein paar Pakete aufgab. Die aufgeklärteren der andern Bewohner La Rösas (Lea, Claudio Gisep, vielleicht auch die Aargauer aus der Villa auf dem Felshügel, deren Namen ich vergessen habe) hielten es ebenso. Für ein weiteres Jahr hielt Chur die Post von La Rösa für unverzichtbar, und tatsächlich wurde sie erst nach dem Tod meines Vaters geschlossen, obwohl ich da, erwachsen geworden, ebenso viele Briefe wie er einst zu versenden versucht hatte. Da war auch Schura Fausta längst tot, und alles nützte nichts mehr. – Schura Fausta hatte einen so guten Risotto gekocht, dass an den Abenden, nach Arbeitsende, oft am einen Tisch die Zollbeamten vom Posten von La Motta (eine halbe Fußstunde höher am Pass) ihren Risotto aßen und am andern die Schmuggler, die den Reis aus dem Veltlin hergebracht hatten. Waffenstillstand, gemeinsames Genießen, ein freundlicher Abschied. »Bundí!«, guten Tag. Das verstand sogar ich.
GUIDO. Onkel Guido war der König im Haus, das, tatsächlich einem Palast ähnlich, einem bäurischen Bergschloss, so viele Zimmer, Kammern, Korridore, Treppen, Küchen, Scheunen und Ställe hatte, dass ich auch jenen Hausbewohnern, die immer da waren – Lea, Delia, Reto, Ginggi, Wanda; und für mich unsichtbar auch Elsa –, nur zufällig begegnete. Auf Guido traf ich kaum je, denn er war zwar der Patriarch und der Besitzer all dieser Herrlichkeit, aber nur selten da. Er tauchte wenige Tage nach unserer Ankunft plötzlich und unvermutet aus dem Nichts und Nirgendwo auf, und so geräuschlos, dass ich ihn erst wahrnahm, als er vor dem Haus stand und hupte. (Auch später materialisierte er sich stets völlig unerwartet; zack, war er da; als habe er sich aus unbekannten Welten hergebeamt.) Da stand er, mit den Gedanken noch anderswo, neben seinem Auto, während wir alle zu ihm hinstürzten, jeder seine Treppe hinunter. Guido nickte uns mit einer Kopfbewegung, die alle einschloss, zu und strich Nora über die Haare, wie ein Monarch auf Staatsbesuch. Er hob eine Hand und winkte zu einem Fenster im ersten Stock hin. Ein Schatten hinter der Glasscheibe hob eine Hand. Er war ein alter Herr, Guido, in einem untadeligen Maßanzug, der nun auch sprach, und zwar so leise, dass alle an seinen Lippen hingen. Ich schaute bewundernd zu ihm auf, dies natürlich, weil er der Chef unsres Klans und vermutlich des ganzen Tals war. Ich wusste, dass er im Rotary-Club war und in Zürich ein eigenes Restaurant hatte. Den Veltlinerkeller. Meine Mutter sagte es immer wieder, voller Ehrfurcht. Guido war stets voller Pläne, an die andere nicht einmal zu denken wagten und von denen er, begeistert murmelnd und den Großen ein Glas Wein nach dem andern einschenkend, den einen oder andern am selben Abend noch an uns ausprobierte. Wir saßen in seinem Salon, Mami, Papi und Lea. Nora und ich, scheu für einmal
Weitere Kostenlose Bücher